berliner szenen Radfahren im Winter

Schwindel, Schnitzel

Die Luft war schneidend kalt auf dem Fahrrad, das Richtung Warschauer Straße fuhr, und ich saß da drauf. Am Kopf waren Ohren, die taten weh in der Kälte, und über den linken Handschuh, der an Daumen und Zeigefinger leider zwei Löcher hatte, hatte ich einen Strumpf gezogen, der zwar auch Löcher hatte, aber die Löcher lagen nicht übereinander.

Während die Hände so langsam abfroren, dachte ich grimmig an einen Text über Fahrradfahren im Winter, den ich für das SZ-Magazin vor vier oder fünf Jahren geschrieben und für den ich 1.000 Mark gekriegt hatte. So eine So-tun-als-ob-Geschichte, in der es darum gegangen war, wie schön es ist, am frühen Morgen die Greifswalder runter in den Sonnenaufgang zu fahren. So ein Lifestylescheiß, in dem kein Platz dafür war, dass man im Winter Fahrrad fährt, weil man kein Geld für die U-Bahn hat. Trotzdem hatte das Fahrradfahren damals mehr Spaß gemacht. Vermutlich weil der Winter nicht so kalt gewesen war. Jetzt war es aber kalt zum Schreien, ich gab auf und fuhr zum ersten Mal seit Monaten wieder U-Bahn.

Es war toll! Es wird immer viel zu wenig bemerkt, wie angenehm das U-Bahnfahren im Winter ist. Während es im Sommer in der U-Bahn furchtbar stickig ist und die Menschen vergrätzt ausschauen, ist das U-Bahnfahren im Winter super. Auf dem Bahnsteig guckt man sich solidarisch bibbernd an; in der U-Bahn ist es kuschlig warm, die Mitbürger schätzen ihre Mitbürger als bewegliche Wärmequelle, und besonders schön ist es, auf dem U-Bahnhof Warschauer Straße zu warten und auf die Leuchtschrift des Hochhauses neben dem ND zu gucken. Da stand „Schwindel“, vielleicht auch „Schnitzel“ und war wohl eine Kunstaktion auf der Suche nach dem Realen.

DETLEF KUHLBRODT