village voice: Intime Hörkunst: Dictaphone spielen den Soundtrack zu einem Tag voller Seufzer
Wehklagen, aber ohne Grund
Der Belgier, so geht das Vorurteil, macht Musik, wie sein Atomium aussieht: metallisch, künstlich und ziemlich statisch. Dass neben den Fritten vor allem die als EBM abgekürzte Electronic Body Music dereinst zum bedeutendsten Exportschlager unseres Nachbarlandes wurde, das ist bei Dictaphone, dem Projekt des nach Berlin übersiedelten Brüsselers Oliver Doerell, allerdings nicht mehr zu hören.
Dabei bedienen sich auch Dictaphone auf ihrem Debütalbum „M.=Addiction“ der Elektronik. Die aber regiert hier nicht den Tanzboden, sondern kuschelt sich tief in den gemütlichen Ohrensessel. Doerell, hauptberuflich als Theatermusiker beschäftigt, sammelt tief grummelnde Bässe und unruhige Knuspergeräusche, aber formt am Rechner daraus niemals treibende Beats, sondern eher eine unaufdringliche Raumatmosphäre, in die man einsinken kann.
Stimmen schwirren von rechts nach links und wieder zurück, bevor sie sich endgültig ins Nirwana verabschieden, ein Klavier spürt ihnen nach. Seltsame Geräusche stehen plötzlich da, berühren einen sanft an der Wange und sind ebenso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Aufnahmen aus dem öffentlichen Raum wirken nicht dokumentarisch, sondern wie intime Hörkunst. Entfernt am Horizont erscheinen selten einmal Rhythmen, winken kurz und schlürfen dann wieder gemächlich von dannen. Und der alte Herr Jazz kommt herein, setzt sich auf ein Stühlchen in die Ecke, wippt mit der Fußspitze und nickt dauernd anerkennend.
Für „M.=Addiction“ hat Doerell kooperiert mit Sängerinnen wie Maika Spiegel von Minimal Compact, mit dem Saxofonisten Klaus Bru und vor allem mit Roger Döring, der mitgeschrieben hat am Film-Score für „alaska.de“ und hier Saxofon und eine Klarinette beisteuert. Letztere erklingt in einem Track wie „The E. Song“ immer nur kurz, wie erstickt, und der Ton wird zum resignierten menschlichen Wehklagen, dessen Grund lange schon nicht mehr bekannt ist, wirkt weniger wie eine konkrete Beschwerde, eher wie ein allgemeines Seufzen aus ganz, ganz viel Weltschmerz.
Für Tage, an denen man immerzu grundlos seufzen könnte, für solche Tage wohl spielen Dictaphone ihren Zeitlupen-Lounge-Jazz, der einem einerseits eine Leichtigkeit verspricht, die einem gerade an solchen Tagen fehlt, sich andererseits aber ganz zurückhaltend und vorsichtig nähert, weil man ja eher überempfindlich ist. Dictaphones Musik ist also mitnichten die Entsprechung zu fettigen Fritten, sondern eher wie ein Kräutertee: kalorienarm, bekömmlich und beruhigend. THOMAS WINKLER
Dictaphone: „M.=Addiction“ (City Centre Offices/Morrmusic/Indigo)
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