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„Vorsicht, nichts anstoßen“

Festhalten, bewahren, erinnern, vernetzen: Der Hamburger Sammler und Drahtkünstler Stephan Watrin stellt sein Leben aus. Seine Wohnung am Schulterblatt hat er zum Museum erklärt

„Plastik sagt mir nichts, auch wenn es schon eine Vergangenheit hat“

von HELGA JAHNKE

„Wohnung mit interessantestem Treppenhaus Hamburgs“, würden die Vermieterinnen annoncieren, sollte hier einmal etwas frei werden. Schon draußen vor der Haustür hängt die erste Wandskulptur. Im Treppenauge schwebt der Eisenschlitten der Großmutter, filigran mit weißen Federn beschneit. Auf dem Treppenabsatz vor der Wohnungstür stapeln sich die Drahtkorb-Lichtobjekte. Beim Kommen leitet alles zur Wohnung von Stephan Watrin hin, beim Gehen hat man eher den Eindruck, die Wohnung quillt ins Treppenhaus über.

In seinem Wohnungsflur hängt von der Decke ein Wald aus Spazierstöcken, die Wand ist das Konzentrat eines Försterzimmers: Geweih an Geweih an Geweih. Sammlungen von Schuhanziehern, Andenkenlöffeln, Kindernähmaschinen, Segelschiffmodellen und Aschenbechern hängen, stehen oder liegen überall in der 125 Quadratmeter großen Altbauwohnung. Eine Wunderkammer, bis unter die Decke gefüllt mit Alltagskultur des 20. Jahrhunderts und den ge- und verdrahteten Traumgestalten des Künstlers. „Vorsicht, dass Sie nirgends anstoßen oder drauftreten.“

Seine Vermieterinnen seien bei ihren gelegentlichen Besuchen zugleich begeistert und betrübt, sagt Watrin: Begeistert über die Exponate in seiner Museumswohnung, betrübt wegen der Fenster, die seit Jahren nicht mehr geputzt und wegen der Wände, die seit dem Einzug vor 23 Jahren nicht gestrichen wurden. Es ist ja kein Rankommen. In den Fenstern stehen Weckgläser voller Kleinstobjekte und Lichtinstallationen. Direkt an der Wand hängen – wohl geordnet in ihren Verkaufs- oder Ausstellungskästen, die Themensammlungen. Davor, in einer zweiten Ebene, ist alles verdrahtet: Ein Kupfernetz liegt über den Vitrinen, Kupferzöpfe verbinden die Arme der Kronleuchter, Kupferlianen schwingen sich von Geweih zu Geweih. Davor die Skulpturen, die schon bis zur Mitte der Zimmer vordringen. Das bedrängt sogar den Künstler: „Für mich muss eigentlich der Teppich frei sein“, sagt Watrin. Schwierig, weil einem die Skulptur „Und ewig lockt das Weib“ so nahe kommt.

Stephan Watrin ist 53. Geboren im Rheinland, Scheidungskind, Internatsschulen, Ausbildung zum Großhandelskaufmann. Karriere bis zum Abteilungsleiter bei Kaufhof. Ausgestiegen, weil die Menschlichkeit auf der Strecke geblieben sei: „Nur Geld verdienen und Druck von oben nach unten verteilen.“ Nach Hamburg, umgeschult auf Erzieher. 25 Jahre bei der Stadt und bei freien Trägern gearbeitet. Jetzt arbeitslos, sucht er nach Teilzeitarbeit als Pädagoge, damit ihm Zeit für seine Kunst bleibt.

Der Sprachfärbung und denSprüchen nach ist Stephan Watrin immer noch die rheinische Frohnatur, aber wie's drinnen aussieht, zeigt sich in seiner Kunst. Deren Themen: Politisches, Lust und Frust im Verhältnis zwischen Mann und Frau, Gefangene und Käfige: „Mein größter Käfig bin ich selbst.“

Früher war er ein Sammler. Er hat Werbeartikel und Alltagsgegenstände seiner Kindheit, der 50er und 60er Jahre, auf Flohmärkten aufgespürt und gehortet. Dann war die Wohnung voll, und er hat aufgehört zu sammeln. Einfach so? Es war Kalter Entzug: Watrin musste einmal für vier Wochen seinen Führerschein abgeben, konnte nichts mehr von Flohmärkten oder zu Käufern transportieren. „Da habe ich den Stress des Sammelns aufgegeben: Avis lesen, anrufen, abholen...“. Sammeln ist Frust und Lust, Ersatzbefriedigung, Geldanlage, die Kindheit erhalten.

Das Umwickeln hilft, „Sachen zu gestalten, was mir im Leben nicht so gelingt“

Seit 1997 verdrahtet Watrin Gesammeltes zu Installationen. Das Umwickeln hilft, „die Sachen zu gestalten, was mir im Leben nicht so gelingt“. Die Fundstücke hat er von Reisen mitgebracht, Knochen, Glasscherben, Federn, rostiger Draht. Materialien, die nichts kosten, Teile mit Vergangenheit. „Die Sachen müssen mich ansprechen, so wie Glas und Holz. Plastik sagt mir nichts, auch wenn es schon eine Vergangenheit hat.“ Verbindungselement ist Kupferdraht, den pult er aus Elektrokabeln, die er in Bauschuttcontainern findet.

Wohl aus Platznot war er „der erste Straßen-Kaffeetrinker im Schanzenviertel“. Er hat sich Tisch, Stuhl, Kaffee und Brötchen mit runter auf den Gehweg genommen und die Arbeit, an der er gerade saß. Die Nachbarn nehmen Anteil: „Heute geht's dir besser“, sagen sie, wenn das Kunstwerk nicht mehr so düster ist wie am Vortag. Dominiert Stachel- oder Kupferdraht? Die Arbeiten spiegeln seine Stimmung.

Zur Zeit hat Watrin die Möglichkeit, seine Sammlungen und Installationen einmal anders darzustellen. Er ist Mitglied im „Sanierungsbeirat Schulterblatt“, wo er den Galerist Olaf Wørdehoff und den Hauseigentümer Holger Cassens kennenlernte. Cassens stellt seine Häuser am Schulterblatt 59 bis zum Herbst für Ausstellungen zur Verfügung, bis sie entkernt und umgebaut werden. Bis vorigen Sonntag hat Watrin dort einen Teil seiner „Archive“ gezeigt, seit gestern sind es „Blaue Lichter“. Wørdehoff will vor allem wissen: „Haben seine Skulpturen ein Eigenleben, wenn sie in einem eigenen, neuen Raum sind, wenn nicht die eine Skulptur in die andere übergeht?“ Wie korrespondieren die Werke mit dem Raum, wie sind Licht und Schattenwurf, wenn sie frei stehen? Da gibt es einen Konflikt zwischen Galerist und Künstler: Der Galerist will auswählen, beim Künstler dominiert der Mitteilungswille: „Da passt noch was“, sagt Watrin: „Ich mach' so viel, dann will ich auch so viel zeigen!“

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