: Das Christkind kam bis Chicago
Deutsche Weihnachten sind ein Exportschlager für die Staaten. Und Chicago hat nicht nur einen deutschen Weihnachtsmarkt, sondern auch ein deutsches Viertel, wo man von A wie Asbach Uralt bis Z wie Zentis Pflaumenmus alles bekommt
von SABINE BERKING
Von den obersten Etagen der Wolkenkratzer um die Chicagoer Daley Plaza sehen die Holzbuden aus wie das Verkaufsmodell für ein neues UNO-Flüchtlingscamp mit Weihnachtsdekoration. Unten, zwischen den Ständen, fühlt man sich dann vor der Sears-Tower&Co-Kulisse wie Gulliver auf Reisen. Es ist Christkindlmarkt in Chicago. Seit 1996 organisiert die Deutsch-Amerikanische Handelskammer das touristische Nostalgie- und Konsumspektakel auf Chicagos zentralem Platz. BMW, Mercedes und Lufthansa sponsern kräftig. Wer heute eine Rostbratwurst kauft, kauft vielleicht morgen ein deutsches Auto. Zwar waren und sind die Deutschen den Amerikanern in Historie und Gegenwart immer mal wieder suspekt, aber erstens glaubt ein Viertel aller Amerikaner, deutsche Wurzeln zu haben, besonders hier im Mittleren Westen, und zweitens ist das Christkind staatenlos.
Mag es in Deutschland auch bergab gehen, deutsche Weihnachten sind ein Exportschlager. Eine Million Besucher wälzen sich vom ersten bis zum vierten Advent durch die aus 42 angeblich Nürnberger Originalen nachgebauten Marktbuden. Die tragen für den Menschen des Mittleren Westens so fremd klingende Namen wie „Brutzelbude“, „Lindwurm“ oder „Süßer Schwabe“. Doch was so klingt, has to be the real thing. Von der Thüringer Rostbratwurst bis zum Rostbratwurstbräter wird alles eingeflogen. Zugegeben, in der modernistischen Umgebung von Mies-van-der-Rohe- und Helmuth-Jahn-Bauten tut man sich mit der Simulation der Atmosphäre eines „europäischen Dorfes“ – so steht’s auf den Werbeseiten – etwas schwer. Durch die Hochhausschluchten pfeift elend der vom Michigansee her wehende Winterwind. Immerhin kann man sich auf offener Straße an alkoholhaltigem Glühwein wärmen – eine kleine Revolution in diesen puritanischen Zeiten. Der Christkindlmarkt ist quasi exterritoriales Gebiet. Schon im 19. Jahrhundert erkämpften sich deutsche Protestanten und irische Katholiken in Straßenschlachten mit Puritanern das Recht auf ein Bier am heiligen Sonntag.
Wer es weniger touristisch mag, der kann mit der legendären Chicagoer EL nach Lincoln Square fahren. Dort ist die Stadt von herbem Charme, oben rattert die Hochbahn, unten graue, zwei- bis vierstöckige Häuser. Die Gegend ist von poröser Urbanität – Waschsalons, Hardware Stores, kleine Malls. Lincoln selbst steht taubenkotverdreckt auf einem Sockel vor einem Walgreen-Drugstore, in dem es seit geraumer Zeit keinen Alkohol mehr gibt, weil, wie die Leute vermuten, der Besitzer wegen des Drogen- und Alkoholmissbrauchs seiner Kinder in die Schlagzeilen geraten war und nun auch den Kunden die kollektive Erziehung zum Alkoholentzug verordnet.
Dem Besucher und Lincoln bietet sich in dieser eher rauen Großstadtlandschaft ein unerwartetes Bild. Eine Art Fußgängerzone mit tannenbegrünten Rabatten, Brunnen und Hamburger Straßenlaterne. Zwei Konditoreien, zwei Kneipen – die Hüttenbar und das Brauhaus – eine Fleischerei, Mayers Delikatessen, die Merz-Apotheke und ein Export-Import-Laden, in dem die Bild-Zeitung und Gartenzwerge, vermutlich polnischer Herkunft, zu haben sind. Ingrids Trachtenmodenladen, in dem sich hiesige Flachländer mit Lederhosen und Jankerl ausstatten können. Das Geschäft der Traditionsmarke Salamander sorgt für den passenden Schuh. Ein Freilichtmuseum „Heimat“, wie es sie so nicht mal mehr in Oberschwaben gibt – Deutschland im Einweckglas für traditionsbewusste Einwanderer der zweiten und dritten Generation und gegen unvermutetes Heimweh. So einer ist Ulli, Psychologe aus Tübingen, überzeugter Schwabe und Wahlchicagoer, verheiratet mit einer Jüdin aus Omaha Nebraska. Mit ihr hat er drei mexikanische Kinder adoptiert. Er arbeitet in einer Fürsorgeorganisation für Pflegekinder, die überwiegend aus dem schwarzen Süden der Stadt kommen.
Gegen Lincoln Square wirken die standardisierten Fußgängerzonen deutscher Städte mit McDolnald’s und Pizza Hut wie schnödes Disneyland. Ein Einkauf bei Mayers Delikatessen wird zur Zeitreise in Kindertage. Im Fenster rosa Neonschrift im Design der Fünfziger, darunter Asbach-Uralt-Weinbrandbohnen und Steinhäger-Flaschen. Beim Öffnen der Ladentür ertönt eine Glocke, man zieht eine Nummer aus einem Automaten und wartet geduldig, bis die weiß behaubten Damen akzentschwer rufen: „Sirtiwoon“, „Sirtituu“ – meine Nummer lautet „Sirtifeif“ … Ich stehe in einer musealen Warenfülle, wie es sie in dieser Auswahl und räumlichen Enge nur noch an wenigen Orten der Welt geben dürfte, auf jeden Fall nicht in einem deutschen Supermarkt: 4711, Fa-Seife, Mousson-Creme mit Tiefenwirkung, Danziger Goldwasser, Kröver Nacktarsch, Leinöl aus dem Spreewald, Rotkraut von Kühne, Kaffee Hag, Bratheringe, süßer Senf, Bauernbrot, frisch aus Toronto, Dominosteine und Christstollen. Und Wurst, Wurst, Wurst … Deutschland ohne Farb- und Konservierungsstoffe, von A wie Asbach Uralt bis Z wie Zentis Pflaumenmus.
Kurz nach dem Krieg kamen noch einmal knapp eine Million Deutsche in die USA, viele davon aus Osteuropa. Die letzte Einwanderergeneration hat auch die Gegend um den Lincoln Square geprägt. Heute wohnen die meisten in den Vororten, ihre Kinder sprechen kein Deutsch und sind zu Amerikanern geworden, die auf Sauerkraut und Knödel verzichten können.
Doch die Tage des Heimatmuseums sind gezählt. Nachdem es mit der Gegend jahrelang bergab ging, droht nun die Juppifizierung, die Inner City ist wieder in, die Immobilienpreise steigen. Dem werden die kleinen Geschäfte vermutlich nicht standhalten. Im Brauhaus wird jetzt Gans serviert, Kalbshaxen gibt’s wie immer. Dreimal die Woche spielt das hauseigene Trio aus Gottfried, Max und Wolfgang „Junge, komm bald wieder“-Schlager und Volksmusik, derzeit mit sentimentalem vorweihnachtlichem Touch. An der holzverschalten Wand das signierte Foto von Freddy Quinn neben mir nicht mehr geläufigen Größen deutscher Schlagervergangenheit. Aus amerikanischer Sicht ist das exotisch, seelenverwandt eher mit türkischen Teestuben in Berlin als mit dem Münchner Brauhaus. Ein Ort für Sentimentales, an den sich keine Touristen verirren. Ein ungarischer Freund meinte mal, Heimat sei was für Verlierer. Ulli widerspricht vehement, seit ein paar Monaten ist er Mitglied in einem Schwabenverein. Kaufen will er nichts in German Town, die Familie steht nicht auf deutsche Weihnachtsgans aus Wisconsin, dieses Jahr geht man amerikanisch Essen. Und den Stollen, den kauft er billiger bei Aldi um die Ecke. Die Globalisierung macht’s möglich. Das ist in Chicago eben nicht anders als in Berlin.
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