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berliner szenen jahresendmysterien

Das Nikolausrätsel

Weihnachten ist komisch. Als Alleinwohner braucht man nicht einmal die Wohnung zu verlassen, um plötzlich vom Gefühl eines gewissen Ernstes infiziert zu werden. Das ist der Ernst der vergehenden Zeit. Am Ende ist man tot wie all die anderen und besteht nur noch aus Teilzeitgedanken in den anderen Köpfen.

Manchmal in der Nacht – und eigentlich ist es ja unablässig Nacht dieser Tage – spürt man sehr direkt, wie die Zeit vergeht, man fühlt sich beengt in ihrem altmodischen Räderwerk, und es wird einem leicht schwindlig. Das vergeht dann auch wieder, und die Dinge gehen ihrer Wege. Nur der Weihnachtsmann aus Schokolade bleibt. Seit dem Nikolaustag liegt er auf der braunen Fußmatte vor der Tür zur Wohnung dieser Familie da im kalten Treppenhaus.

Irgendjemand hatte ihn da hingelegt in der Nikolausnacht, wie auf die Fussmatten vor den ganzen anderen Wohnungen auch. Während die anderen sicher aufgegessen wurden, blieb er da liegen. Wohl weil die betreffende Wohnung zwei Ein- oder Ausgänge hat, und der andere bevorzugt wird. Aber auch der Mann, der alle zwei Wochen böse guckend das Treppenhaus macht, lässt ihn da liegen. Eine Weile rätselte man jedenfalls, wer das mit den Weihnachtsmännern war: Vielleicht der romantische kleine Kifferhiphopper, möglicherweise der Typ, der grad eingezogen war und mit anonymen Geschenken wohl für gutes Karma hatte sorgen wollen. Oder Max Müller, der Dichter und Sänger der Band ‚Mutter‘, dem man in letzter Zeit im Treppenhaus begegnete, weil’s ihm zu Hause vielleicht zu kalt ist. Sagte aber nein. Wahrscheinlich war’s doch der humpelnde Treppenrausreiniger. Ist ja auch egal; Hauptsache, die Tage werden wieder länger! DETLEF KUHLBRODT

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