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Die Entweichung

In meiner Familie gilt für Heiligabend ein Ritual: Niemand darf das Haus verlassen. Wer noch Lebensmittel oder Geschenke einkaufen will, hat bis spätestens mittags zurück zu sein. Weihnachten 1994 aber musste mit dieser Tradition gebrochen werden. Ich war gerade 16 und hatte das Bedürfnis, wenigstens einen Augenblick mit meinem ersten Freund und einem befreundeten Pärchen zu verbringen. Der Auslauf wurde mir gewährt. Aber nicht länger als verabredet und nach der Bescherung sofort wiederkommen!

Die Pärchen-Bescherung fand statt. Ich bekam ein Buch und einen liebevoll in Eierpappe versteckten Kerzenständer (danke Markus!), bewunderte die hundehalsbandartige Kette, die meine Freundin von ihrem „Schatz“ angelegt bekam (ein Markierungsbänzel?) und erntete Lob für meine Collage, auf der kaum etwas zu sehen war, weil wir erst zwei Wochen zusammen waren. Als sich alle glücklich in den Armen lagen, war die familiäre Sperrfrist längst überschritten.

Ich aber – lange darüber hinweggetröstet, dass das Buch, dass ich bekommen hatte, von seiner Mutter (!) ausgesucht worden war –, fühlte mich so frei, an Heiligabend einmal „draußen“ zu sein, dass ich trotz der Verspätung beschwingt nach Hause zurückkehrte. Dort erwartete mich aber nicht meine Familie, sondern eine Mischung aus Schöffengericht und Trauergesellschaft: Meine Mutter rührte mit finsterem Gesicht in ihrem Teebecher. Mein Vater wagte kaum mich anzusehen. Schwester und Bruder kauten ratlos auf den Weihnachtskeksen.

Es dauerte, bis meine Mutter das Schweigen unterbrach: „Wie konntest du vergessen, was heute für ein Tag ist? Weihnachten ist doch ein Fest der Familie!“ Meine Wut war nicht mehr zu stoppen. Mit dem Satz: „Weihnachten ist ein Fest der Liebe!“ schlug ich die Tür hinter mir zu. Ich hörte noch, wie die olle Vase vom Schrank fiel ... LOTTA HANNE

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