Tödlicher Machtkampf ohne Ende

Hungerstreik in der Türkei fordert weiteres Opfer. Auch unter der neuen Regierung ist kein Kompromiss in Sicht

ISTANBUL taz ■ Anfang vergangener Woche war es wieder so weit – eine kurze Notiz in einigen wenigen Zeitungen machte darauf aufmerksam, dass erneut ein Mensch dem bislang wohl längsten politischen Hungerstreik weltweit zum Opfer gefallen ist. Feride Harman, Angehörige der linksradikalen Splittergruppe DHKP/C starb in einem Haus in Istanbul, nachdem sie den Hungerstreik auch nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis fortgesetzt hatte.

Feride Harman ist, je nachdem wer dazugezählt wird, das 102. oder 62. Opfer eines Hungerstreiks, der vor mehr als zwei Jahren begann und heute außer von den unmittelbar Betroffenen kaum noch registriert wird. Im Oktober 2000 begannen Häftlinge, vor allem Mitglieder der DHKP/C, einen Hungerstreik, um zu verhindern, dass sie aus den bis dahin gebräuchlichen, normalen Gefängnissen, in denen bis zu 100 Gefangene in einem Saal untergebracht waren, in neue Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden.

Den eigentlichen Kampf um die Verlegung beendete die damalige türkische Regierung mit einem brutalen Polizei- und Militäreinsatz in den betroffenen Knästen, wo sie im Dezember 2000 die Hungerstreikenden Gefangenen gewaltsam herausholte und in die neuen Gefängnisse bringen ließ. Bei diesem Einsatz starben 30 Menschen, 28 Gefangene und 2 Polizisten. Zusammen mit den Toten des Gefängnissturms und den Opfern von polizeilichen Angriffen auf die Anhänger sind es nun 102 Tote.

Ging es anfangs vielleicht tatsächlich um den Alltag im Knast und die Angst, in den neuen Hochsicherheitstrakten mit seinen Einzel- und Dreierzellen, der Willkür des Personals hilflos ausgeliefert zu sein, ist die ganze Aktion mittlerweile zu einem Machtkampf geworden, der außerhalb der beteiligten Gruppen kaum noch nachzuvollziehen ist. Unzählige Vermittlerdelegationen, Abgeordnete, Intellektuelle und Vertreter des Europäischen Parlaments sind in ihrem Bemühen um einen Kompromiss in den letzten zwei Jahren sowohl am türkischen Staat als auch an der Revolutionsrhetorik der Hungerstreiker gescheitert.

Mittlerweile ist der dritte Justizminister mit dem Streik konfrontiert. Cemil Cilek, der Anfang Dezember ins Amt kam, gilt nicht als ideologischer Hardliner, doch seine Vorgänger haben Versprechen so oft nicht eingehalten, dass für neue Verhandlungen jedes Vertrauen fehlt. Andererseits mussten Vermittler auch immer wieder die Erfahrung machen, dass die Streikenden kaum für sich selbst sprechen, sondern von ihrer Parteiführung in Belgien ferngesteuert werden.

Immer wieder werden von dort aus neue Gruppen zum „Todesfasten“ zusammengestellt, die die Sterbenden ersetzen. Der Staat ist längst dazu übergegangen, entkräftete Gefangene aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend aus dem Gefängnis zu entlassen, damit sie nicht im Knast sterben. Um wieder etwas Aufmerksamkeit auf das endlose Sterben zu lenken, haben die beiden bekanntesten Schriftsteller des Landes, Yasar Kemal und Orhan Pamuk, Feride Harman kurz vor ihrem Tod besucht. Denn wegschauen, meinte Orhan Pamuk, ist auch keine Lösung.

JÜRGEN GOTTSCHLICH