Unter Armen: Der Stolz bleibt

Bremerhaven-Lehe ist der ärmste Stadtteil im Norden. Die Verwahrlosung, nach der Medien hier immer wieder suchen, ließe sich auch anderswo finden.

Nach dem Niedergang: Der Stolz in Lehe ist geschrumpft, doch man hat sich nicht aufgegeben Foto: Jean-Philipp Baeck

BREMERHAVEN/BERLIN taz | Es muss etwas in Bremerhaven geben, das bei Außenstehenden fiebrige Visionen auslöst. Vielleicht sitzt die Stadt auf einer Erdspalte, aus der giftige Dämpfe ausströmen, so wie im griechischen Delphi, und die Bremerhavener selbst sind diesem Gift mit der Zeit gegenüber resistent geworden. Dann aber wäre es ein Gift, welches vor allem Boulevard-Journalisten betört, Journalisten vom Spiegel oder Sat.1. Sie kommen nach Bremerhaven und sehen der Apokalypse ins Auge. Das klingt schlimm, schlimmer, es klingt: am schlimmsten.

Am allerallerschlimmsten aber ist der Bremerhavener Stadtteil Lehe. Laut Schuldneratlas des Wirtschafts- und Inkassodienstleisters Creditreform einer der ärmsten Stadtteile Deutschlands und jener Bezirk, in dem ich die zweite Hälfte meiner Jugend und meine Eltern den ihrigen Teil ihres Arbeitslebens verbracht haben. Sie wohnen noch heute dort in einer schönen Jahrhundertwende-Villa. Und nein, mein Vater ist kein Drogenbaron wie El Chapo. Er ist Journalist bei der Nordsee-Zeitung Bremerhaven. Und nein, er dealt auch nicht nebenbei, soweit ich weiß. Auch meine Mutter dealt nicht, sie unterrichtet Ballett.

Lehe ist einer der wenigen zentrumsnahen Stadtteile Bremerhavens, der vom Luftangriff der Nacht des 18. auf den 19. September 1944 verschont geblieben ist. Fährt man aus Mitte herüber, dann überquert man eine magische Grenze, die Grenze zwischen den 1950er-Jahren und der Gründerzeit. Man biegt vom Freigebiet auf die Hafenstraße ein, eine schnurgerade Allee. Rechter Hand Grundstücke, die am verschlungenen Fluss Geeste liegen, auf den auch der Garten meiner Eltern trifft. Gegenüber der Geeste grasen Ochsen. Dahinter kommt quasi nichts mehr bis Hamburg. Zur Linken läuft die Goethestraße parallel.

Hier ist mein Vater aufgewachsen, hier befand sich das Geschäft meiner Großeltern, Kriegsgeflüchtete aus Berlin und Pommern. Er spielte in der Goethe Fußball und schaute Samstagnachmittags in der Kneipe an der Ecke „Fury“. Viele seiner Kollegen wohnen im Grünen am Stadtrand, er wohnt noch immer im Bezirk, in seiner alten Nachbarschaft. In einem Arbeiterbezirk, in dem der Stolz nach dem Niedergang von Fischerei und Schiffbau kleiner geworden ist. Was nicht heißt, dass man sich hier aufgegeben hätte.

Das suggeriert ein Beitrag von Sat.1, in dem ein Reporter durch Lehe läuft und von Armut, Kriminalität und Leerstand spricht. Ein junger Mann hält einen Hund auf dem Arm, den hätte er einem verwahrlosten Obdachlosen abgenommen. Schlimmergeht’snatürlich nicht.

Hütchenspielertrick des Establishments

Dialektisch am Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte geschult war mir Leichtmatrose der Revolution natürlich sofort klar: Hier sollen Ärmste den Armen vorgeführt werden – um von der eigenen Tristesse abgelenkt zu werden, um nicht verbündet der Haute Bourgeoisie die Paläste einzurennen. Ein alter Hütchenspielertrick des Establishments. Das Bild, das blieb, war jedenfalls jenes des ärmsten Stadtteil Deutschlands. Armut gibt es natürlich in Lehe, aber die selektive Verwahrlosung, die hier aufgespürt wird, könnte man so auch in Berlin-Mitte finden. Meine Erinnerungen sind andere. Sie sind persönlich, individuell, vielleicht aus dem Elfenbeinturm heraus gesehen. Aber nichtsdestotrotz: wahr.

Das Haus meiner Eltern, in welches wir Anfang der 90er-Jahre zogen, war damals völlig verwaist. Eine alte Jahrhundertwende-Villa, der verstorbene Besitzer wohlhabend und exzentrisch. Die Fenster zur Straße waren abgehangen wie die wenigen verbliebenen Möbel, die Sonne verfing sich im aufgewirbelten Staub, die Fenster zum Garten waren zugewuchert. Ein magischer Ort, aus der Zeit gefallen, eine Trutzburg gegen die Welt.

Nach Jahren der „Finsternis“ mit nur drei TV-Kanälen gab es hier weite Fluchten und Kabelfernsehen. Am ersten Abend lag ich im leeren Wohnzimmer und schaute Kabel 1. Es lief der „Prinz aus Zamunda“ mit Eddy Murphy, der im Getto von Queens seine große Liebe findet. Das passte ja irgendwie.

Wenn man aufs Dach steigt, sieht man das Gelände vor der Stadthalle, auf dem damals der Jahrmarkt stattfand. Dort, am Schießstand, steckten mir als Kind fremde Menschen Geld zu, damit ich weiterschoss. Ich traf jedes Mal wie ein ausgebildeter Sniper, was meine pazifistischen Eltern sicher beunruhigte. Weiter hinten der Hafen, die Kräne der Stromkaje und der Columbusbahnhof, von dem die Ozeanriesen nach Amerika abgefahren sind.

Das vermeintliche Ghetto

Man sieht bei gutem Wetter die Wesermündung und ahnt dahinter fast schon New York. Man sieht dies alles von Lehe aus, dem vermeintlichen Ghetto, dem mutmaßlich ärmsten Stadtteil Deutschlands, in dem Mülltonnen brennen sollen und Arbeitslose ihre Hunde verwahrlosen lassen.

Schräg gegenüber unseres Hauses in der Hafenstraße hatten Freunde meiner Eltern, Pipo und Janine, ihr vom Magazin Feinschmecker ausgezeichnetes italienisches Restaurant. In dem habe ich meine erste Dorade selbst filetiert und nach der Schule mit den Jungs der Familie, Giuseppe und Fabrizio, Vitello Tonnato vorgesetzt bekommen. Wir saßen hier beisammen und waren neidisch auf den ältesten Sohn Benedetto, denn der hatte längst eine Freundin, sah cool aus und spielte für die Jugend von Werder Bremen. Dagegen waren wir natürlich ganz kleine Nummern.

Ein paar Geschäfte daneben lag unser Videoladen, in dem die Auswahl an Pornos zugegeben besser war als jene an Arthouse-Filmen. Die Hafenstraße hinunter gab es Secondhandläden die Labyrinthen glichen, in denen ich mit meiner Mutter nach Schätzen suchte. Im alten Kino gegenüber der Kirche sahen Giuseppe und ich „Weiße Jungs bringens nicht“ mit Wesley Snipes und Woody Harrelson und träumten mit nur 1,70 Meter Körpergröße von einer Karriere in der NBA. Dann kam die Nordsee-Zeitung, bei der mein Vater arbeitete, in der ich die Agenturmeldungen aus Nadeldruckern rattern sah und an seinem Arbeitsplatz zum ersten Mal etwas in die Suchmaske von Google tippte. Ich glaube die drei Buchstaben R, A und F.

An der Zeitung lag ein weiteres Kino, das „Atlantis“, in dem wir „When we were Kings“ über Muhammad Alis legendären Kampf gegen George Foreman schauten und uns mit etwa 60 Kilo Kampfgewicht in den Ring von Kinshasa dachten. Am Ende der Hafenstraße war damals die Tanzschule meiner Mutter. Weiße, helle modernistische Räume mit schmalen Bauhausfenstern und Parkett, auf denen hübsche Mädchen Pirouetten drehten.

Giftige Dämpfe

Eine Ecke weiter dann noch ein Kino, das „Aladdin“, in dem wir an Giuseppes Geburtstag mit den Jungs „Hook“ sahen und später auf der Straße zu fliegen übten wie verlorene Jungen. Was für eine Traum- und Kinodichte im Getto das war. Zugegeben: Mittlerweile sind all diese Kinos geschlossen.

Vielleicht sind es die giftigen Dämpfe aus den Bremerhavener Erdspalten, das schlechte Thunfisch-Karma des Vitello Tonnato, das zu viel an Kino, das Brom in der Meeresluft. Vielleicht ist der Grüne Tee meiner Mutter von „Himmelstau“ doch hartes Designer-Dope, das Mehl Koks und der Zucker im formschönen Streuer kristallines MDMA, sodass ich voll bis oben hin mit synthetischer Liebe das Elend nicht sehen konnte. Vielleicht.

Aber vielleicht hat ein Ort wie Lehe, an dem mein alter Freund Moritz gerade eine Art Künstlerkolonie anleiert und man mit EU-Mitteln die Schulen saniert, an dem man beim Portugiesen für 10 Euro eine sensationelle Fischplatte bekommt und die Penner im Park Arm in Arm mit meiner Schwester heulen, weil unsere kleine Katze Pixie eine Woche verschwunden war – vielleicht ist so ein Ort ja gar nicht so schlimm. Weder in der Erinnerung noch im Hier und Jetzt.

Ruben Donsbach,34, verantwortlicher Redakteur für das MagazinFräulein,kommt aus Bremerhaven und lebt in Berlin

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