Protest von Asylsuchenden: Der Aufstand der Unsichtbaren
In der Heimat traumatisiert, in Deutschland deprimiert. Warum sich immer mehr Flüchtlinge gegen ihre oftmals desolate Lage wehren.
BERLIN taz | Als sich der psychisch kranke Iraner Mohammed Rahsepar im Januar 2012 in Würzburg tötete, begehrten seine Mitbewohner aus dem Asylheim auf. Die Ausländerbehörde habe Rahsepar in den Tod getrieben und mache auch ihnen das Leben zur Hölle, erklärten sie und nahmen den Kampf auf gegen einen Staat, der sie nicht will.
Einige nähten sich die Münder zu, sie verweigerten die Nahrung, forderten Bleiberecht – und fanden Nachahmer im ganzen Land. Der Protest von Asylbewerbern und Geduldeten reißt seither nicht ab. Sie wehren sich gegen schikanierende Ausländerbehörden, Diskriminierung und drohende Abschiebungen.
Dabei sind sie offensiv wie nie zuvor: Im Oktober marschierten sie zu Fuß quer durchs Land, zuletzt traten immer mehr von ihnen in Hungerstreik, einige gar in den potenziell tödlichen Durststreik. Die seit den neunziger Jahren existierende Flüchtlingsbewegung in Deutschland entfaltete eine ungekannte Dynamik.
Fakt ist aber auch: Viele Bedingungen für Asylsuchende haben sich bereits verbessert. Ein Teil des sogenannten Asylkompromisses von 1993 wurde aufgeweicht: Früher mussten Asylbewerber mit gut der Hälfte der Sozialleistungen für Deutsche auskommen, seit einem Verfassungsgerichtsurteil von 2012 erhalten sie heute nominell nur noch 28 Euro im Monat weniger als Hartz-IV-Bezieher.
Von Hamburg bis München: Überall in der Republik gehen Asylsuchende für ihre Rechte auf die Straße, errichten Zeltlager auf öffentlichen Plätzen oder treten gar in den Hungerstreik. Eine Deutschlandkarte dokumentiert die Schauplätze des Protests im Juli und August.
Bis auf Bayern und Sachsen hält kein Bundesland mehr die Residenzpflicht nach innen aufrecht. Und die Dauer des totalen Arbeitsverbots während des laufenden Asylverfahrens hat sich auf neun Monate verkürzt.
Warum also sind die Proteste heute größer, ausdauernder und radikaler als früher?
Flüchtlingszahlen steigen wieder
Früher konnte Deutschland Flüchtlinge nur direkt in ihre Heimatländer abschieben. Das hat oft gedauert, es existierte Rechtsschutz. Heute ermöglicht es die sogenannte Dublin-II-Verordnung der EU, Flüchtlinge in europäische Transitstaaten zurückzuschieben. Jeder Afghane zum Beispiel, der über Ungarn oder Italien nach Deutschland kommt, kann hier kein Asyl mehr beantragen. Er muss zurück in das Land seiner EU-Einreise.
Seit den neunziger Jahren sind die Flüchtlingszahlen kontinuierlich gesunken – unter anderem infolge des „Asylkompromisses“. Deshalb wurden vielerorts die Flüchtlingsunterkünfte geschlossen. Doch seit 2009 steigen die Zahlen wieder. Neue Unterkünfte gibt es meist noch nicht, viele Heime sind überfüllt. Das Leben mit fremden Menschen auf engstem Raum setzt vielen der oft traumatisierten Flüchtlinge zu.
Die Angleichungen der Sozialleistungen durch die Karlsruher Richter hat ihren Haken: Viele Städte halten daran fest, Leistungen nicht in bar, sondern als Essenspakete oder Gutscheine auszugeben. So soll das Leben als Flüchtling in Deutschland bewusst unattraktiv bleiben.
Empfänger empfinden die Essenspakete oft als entmündigend und frustrierend. Auch die Verkürzung des Arbeitsverbots hat nur wenig verändert: Sie bringt Asylsuchenden meist nur einen nachrangigen Arbeitsmarktzugang. In der Jobkonkurrenz mit Deutschen nutzt das kaum etwas.
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