Tod in der Geflüchtetenunterkunft Kusel: Niemand will schuld sein
Der kurdische Geflüchtete Hogir Alay soll Suizid begangen haben, sagen Behörden. Freund*innen und Angehörige sind skeptisch und fordern Veränderung.
Immer wieder hatte sich der 24-Jährige über die schlechten Bedingungen in seiner Unterkunft beschwert, offenbar ohne Erfolg. Die Ermittlungen zu seinen Todesumständen wurden eingestellt. Doch Familie und Freunde wollen sich damit nicht abfinden: Ihre Fragen seien noch nicht vollumfänglich beantwortet worden. „Natürlich lassen wir das so nicht stehen“, sagt Mukaddes Yenigün, Vertreterin der Initiative Hogir Alay.
Hogir Alay war im Februar 2023 aus politischen Gründen mit seiner Frau aus der Stadt Kızıltepe im Südosten der Türkei nach Deutschland geflüchtet. Kurd*innen wie er werden unter Erdoğans Regierung verfolgt. In Deutschland beantragte Alay Asyl, er wurde in der Geflüchtetenunterkunft Kusel untergebracht.
Die Bedingungen dort seien problematisch gewesen, berichten Angehörige und Freund*innen, die sich zur Initiative Hogir Alay zusammengeschlossen haben. Mehrfach habe der Geflüchtete sich aufgrund psychischer Belastungen beschwert, beispielsweise wegen wiederholter Zimmerverlegungen. Zudem soll er des Öfteren vom Sicherheitspersonal schikaniert und Übergriffen ausgesetzt worden sein. Mehrmals habe er sich an die Heimleitung wenden wollen, doch die vor Ort anwesenden Übersetzer*innen sollen sich geweigert haben, seine Anliegen zu übersetzen, so die Initiative, denn dies schädige den Ruf der Unterkunft.
Wochenlang vermisst
Schließlich schrieb Alay eine E-Mail an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Dieses antwortete ihm, für sein Anliegen seien die Landesbehörden zuständig. Auf Nachfrage der taz schreibt das Bamf, man habe Alay „informiert und ergänzend Informationen zu den zuständigen Behörden sowie weiteren Beratungsmöglichkeiten aufgezeigt“.
Mit seiner Familie stand Hogir Alay in engem Kontakt, regelmäßig erzählte er ihr von seiner Situation. Besonders zu seinem Vater soll er eine tiefe Bindung gehabt haben. „Kein einziger Tag verging, an dem er seinen Vater nicht anrief“, erzählt Mukaddes Yenigün. Entsprechend groß war die Sorge, als Alay ab dem 11. Oktober 2023 nicht mehr an sein Handy ging und seine Familie ihn nicht mehr erreichen konnte. Sein Bruder Şiyar Alay, der in Österreich lebt, soll mehrfach die Polizei in Kusel angerufen und darum gebeten haben, nach Hogir Alay zu suchen. Auf seine Bitte hin soll auch Şiyar Alays Deutschlehrer mehrfach die Polizei kontaktiert haben.
Die Polizei Kusel wiederum gibt auf Nachfrage der taz an, vom Fall Hogir Alay erst nach dessen Tod erfahren zu haben. „Bis dahin war die Person nicht als vermisst gemeldet worden. Hinweise oder Anhaltspunkte, die für einen Vermisstenfall sprechen, lagen der Polizei nicht vor“, heißt es in der Antwort.
„Ich lache gerade aus Wut“, sagt Yenigün. „Wir haben ab dem 15. Oktober Anruflisten, wo von Österreich aus sein Bruder zusammen mit einem Deutschlehrer mehrfach mit der Polizei gesprochen und sie gebeten hat, eine Vermisstenanzeige aufzunehmen. Es gibt auch Mailverkehr.“ Polizei und Staatsanwaltschaft betonen in einer gemeinsamen Pressemitteilung von Anfang Februar, es soll lediglich darum gebeten worden sein, „den Mann zu informieren, dass er sich bei seiner Familie melden solle“.
Zweifel an der offiziellen Version
Als die Ermittlungen eingestellt werden, wird Alays Leichnam in die Türkei gebracht. Dort sollte eine Autopsie durchgeführt werden. Doch wegen des schlechten Zustands der Leiche sei das nicht mehr möglich gewesen, habe der Mediziner vor Ort bemängelt. So berichtet es die Initiative. Sie erzählen weiter: Schon als Alay gefunden wurde, befand sich der Leichnam in einem derart schlechten Zustand, dass man ihn nur durch sein Tattoo am Bauch identifizieren konnte. Der Mediziner kommt zu dem Schluss, dass der genaue Todeszeitpunkt nicht exakt ermittelt werden kann – er liege irgendwo zwischen dem 17. Oktober und dem 4. November, als Alay gefunden wurde.
Da kommen der Familie erstmals Zweifel: Wie kann ein Mensch im Zweifel über zwei Wochen dort hängen, ohne dass ihn jemand sieht? Warum wurde die Leiche nicht früher entdeckt, obwohl sie sich auf dem Gelände der Unterkunft befand? Vor allem ein Detail gibt ihnen zu denken: „Seine Füße berührten fast bis zu den Knien den Boden“, sagt Yenigün. So ist es auch auf den Fotos des Leichenfunds zu sehen, die der taz vorliegen. Die Mediziner in der Türkei hätten der Familie gesagt, diese Höhe sei für einen Suizid zu niedrig.
Die Initiative Hogir Alay fordert Aufklärung und Gerechtigkeit. „Unser größter Wunsch ist, zu wissen, was mit Hogir passiert ist“, sagt Şiyar Alay der taz. Sein Bruder habe „endlich frei und ohne Angst leben und arbeiten“ wollen. „Durch die ganzen Bedrohungen in der Türkei als Kurde aus der eigenen Heimat weggehen zu müssen, um dann doch wieder tot zurückzukommen – das war nicht das, was sich Hogir erträumt hatte.“
Durch ihren Rechtsbeistand und den öffentlichen Druck hatte die Initiative zwischenzeitlich eine Wiederaufnahme der Ermittlungen erreicht. Am vergangenen Donnerstag wurden diese abermals eingestellt. In einer gemeinsamen Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Kaiserslautern und des Polizeipräsidiums Westpfalz nennen die Behörden erneut Suizid als Todesursache. Die Ermittlungen hätten „keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden“ ergeben. Alay habe sich „kurz vor seinem Tod am Ende seiner Kraft“ gesehen, heißt es in der Mitteilung. Das gehe aus Ermittlungen im persönlichen Umfeld und der Auswertung seiner Handykommunikation hervor.
Zu wenig Hilfsangebote
Wie konnte Alay in eine für ihn so aussichtslose Lage geraten? Diese Frage führt unweigerlich zurück zu Alays Versuchen, etwas an seiner Unterbringungssituation zu ändern. Das für Aufnahmeeinrichtungen zuständige Integrationsministerium des Landes Rheinland-Pfalz verweist auf Nachfrage auf das Beschwerdemanagementverfahren der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD), „das sukzessive in den Einrichtungen implementiert und weiterentwickelt“ werde, sowie auf den Einsatz externer Ombudspersonen, die Sprechstunden anböten. Im Falle der Geflüchtetenunterkunft Kusel habe eine solche Ombudsperson alle zwei Wochen Sprechstunde.
Eine ehrenamtlich tätige Person könne die Beschwerden gar nicht vollständig auffangen, kritisiert der Landesflüchtlingsrat. Der Sozialdienst des ADD wiederum sei nicht unabhängig. Es brauche niedrigschwellige Beschwerdestellen mit adäquaten Übersetzern, die mehrere Sprachen beherrschten. Auch müsse ein Beschwerdemanagement Befugnisse haben, um überhaupt Veränderungen bewirken zu können. Dies sei „unseres Ermessens zum jetzigen Zeitpunkt nicht gegeben“, so der Flüchtlingsrat auf taz-Anfrage.
Diese Forderungen teilt auch die Linke-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger: „Es wäre ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es in allen Aufnahmeeinrichtungen unabhängig arbeitende und gut ausgestattete Beschwerdestellen gäbe, an die sich Geflüchtete wenden könnten“, sagt sie. Bünger fordert, dass langfristig die „menschenunwürdigen Massenunterkünfte durch dezentrales Wohnen“ ersetzt werden.
Die Unterstützer*innen von Hogir Alay haben mittlerweile eine zweite Initiative gegründet: Pena-Ger. Sie betreiben Social-Media-Kanäle auf Instagram und Twitter, wo Geflüchtete Hilfe suchen können – bislang auf Kurdisch, Türkisch und Deutsch. Viele Geflüchtete hätten sich anonym bei der Initiative gemeldet und von ähnlichen Beschwerden wie Hogir Alay berichtet, erzählt Mukaddes Yenigün. „Jeder davon könnte der nächste Hogir sein, wenn wir nicht handeln“, sagt sie. Die Initiative möchte Gehör für die Belange der Geflüchteten schaffen. Ihr Ziel: „Dass wirklich jemand zuhört, Mensch zu Mensch, weil wir Menschen sind.“
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