Kommentar Eintrittswelle in die SPD: Letzte Chance, Genossen!
Der neoliberale Weg der vergangenen 20 Jahre war ein fataler Irrtum der SPD. Die Aktion der Jusos aus NRW könnte ein rettendes Korrektiv sein.
I n der SPD-Zentrale im Berliner Willy-Brandt-Haus haben führende Genossen mal wieder Angst. Grund dafür sind aber weder Neuwahlen noch die erneut drohende Rolle als blasser Juniorpartner in einer Großen Koalition – knapp 20 Jahre nach Schröder, Hartz & Co. ist die Sozialdemokratie so am Boden, dass sich ihre Spitzenvertreter jetzt schon vor einer Eintrittswelle fürchten.
Seit dem Bundesparteitag in Bonn am Sonntag haben mehr als 1.600 Menschen erklärt, in der SPD mitarbeiten zu wollen. 1.600 Unterstützerinnen in nicht einmal drei Tagen! Doch was machen Genossen wie Matthias Miersch, immerhin Sprecher der einflussreichen „Parlamentarischen Linken“, der vier stellvertretende Bundestagsfraktionsvorsitzende angehören und der Fraktionschefin Andrea Nahles nahesteht?
Er warnt, Neumitglieder könnten Provokateure sein, die nur die in Bonn mit viel Mühe durchgesetzten Koalitionsverhandlungen mit Merkels Union sabotieren wollten – und fordert die SPD-Ortsvereine zu genauer Prüfung der Aufnahmeanträge auf.
Pflichtschuldig unterstützt werden die ängstlichen Bundestagsabgeordneten um Miersch von Nordrhein-Westfalens SPD-Landeschef Michael Groschek. Denn seine GroKo-kritischen NRW-Jusos haben die Eintrittswelle mit ihrer witzigen Kampagne „Tritt ein, sag' Nein“ überhaupt erst angeschoben. Werbewirksam war auch der Spruch des Juso-Landesvorsitzenden Freddy Cordes, für Studierende koste die SPD-Mitgliedschaft nur fünf Euro im Monat: Wer also zehn Euro investiere, könne beim im März anstehenden Basis-Entscheid über die GroKo dabei sein – und der werde in jedem Fall akzeptiert, hat der angeschlagene SPD-Bundeschef Martin Schulz versprochen.
Aus Berlin wird Cordes jetzt offenbar ernsthaft vorgeworfen, er habe zur Unterwanderung der SPD aufgerufen – dabei müsste jedem klar sein, dass auch der Juso aus NRW keinerlei Interesse daran haben kann, die frisch gewonnenen jungen UnterstützerInnen sofort wieder zu verlieren.
Die SPD-Führung will Anfang der dritten Januarwoche einen Stichtag festlegen, ab wann Neumitglieder am Mitgliederentscheid über eine neue GroKo nicht mehr teilnehmen dürfen. Damit reagiert sie nach Auskunft des Generalsekretärs Lars Klingbeil auf die Eintrittskampagne der Parteilinken und Jusos. (dpa/taz)
Hinter der Angst vor der Eintrittswelle steht deshalb etwas ganz anderes: Führende Genossen wollen noch immer nicht wahr haben, dass sie seit fast 20 Jahren Politik gegen ihr eigenes Klientel gemacht haben, dass der neoliberale „Dritte Weg“ Schröders – und Blairs – ein fataler Irrtum war, der überhaupt erst zum Absturz und zur Existenzkrise ihrer Partei geführt hat.
Nicht existenzsichernde Mindestlöhne, prekäre Jobs, ungleiche Bezahlung, der Absturz auf Sozialhilfeniveau nach nur zwei Jahren Arbeitslosigkeit auch für langjährig Beschäftigte haben mit der Idee sozialer Gerechtigkeit, für die die SPD einmal stand, ebenso wenig zu tun wie immer wieder verschobene BAföG-Erhöhungen. Genau das dürften die Neumitglieder der Parteiführung schnell klarmachen wollen. Die Angst der Spitzengenossen davor ist menschlich verständlich. Für die SPD aber ist die Eintrittswelle eine riesige Chance – und vielleicht sogar die letzte.
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