Berichterstattung zum Totschlag in Kandel: Null Relevanz von Einzelfällen
Nach Kandel wird Medien Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen vorgeworfen. Aber das Betrauern Einzelner ist nicht Aufgabe der Presse.
In Rheinland-Pfalz wird ein Mädchen getötet und eine knappe Woche später haben wir eine Debatte um Staatsversagen, Zensur und die Vermessung der Skelette von Flüchtlingskindern. Mittendrin: die Medien. In einer weiteren Rolle: die populistische Verkürzung von Tatsachen.
Die Ereigniskette war die folgende: Am Mittwoch vor Silvester um 19 Uhr vermeldet das Polizeipräsidium Rheinpfalz ein Tötungsdelikt in Kandel. Dabei betont die Polizei mit der Formulierung „Streit zwischen einem 15-jährigen Afghanen und einer 15-jährigen Deutschen“ den Aspekt Nationalität sehr stark. Knapp 20 Minuten später tickert die Deutsche Presseagentur von Berlin aus: „15-jähriger Afghane ersticht Mädchen im Supermarkt“ – wieder eine Betonung der Nationalität, die man bei der Agentur rückblickend für nicht angemessen hält.
Erst als sich am darauffolgenden Donnerstag um 13 Uhr die Polizei in einer Pressekonferenz äußerte, wurde Näheres zu dem Fall bekannt – zum Beispiel, dass es sich bei dem Tatverdächtigen um einen minderjährigen Flüchtling handelt.
Trotzdem sah sich die Tagesschau-Redaktion bereits um 16 Uhr desselben Tages – also lange vor der Hauptsendung um 20 Uhr – veranlasst, per Blogbeitrag zu rechtfertigen, warum sie bisher nicht berichtet hatte. Man werfe der Redaktion in den sozialen Medien vor, das Thema zu verschweigen, schrieb Vize-Chefredakteur Marcus Bornheim. Und erklärte: „tagesschau und tagesschau.de berichten in der Regel nicht über Beziehungstaten. Zumal es hier um Jugendliche geht, die einen besonderen Schutz genießen.“
Könnte ja sein, kann aber auch nicht sein
Anlass genug für rechte Denker*innen, sich über das angebliche „Beschweigen“ des Vorfalls zu äußern; und für Vertreter*innen eines selektiven Feminismus, zu behaupten: Der Verweis auf die „Beziehungstat“ sei eine Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen. Der Täter werde geschützt, das Opfer nicht einmal betrauert – das Technikportal heise.de gibt seinem Text gar den Titel „Das unwerte Leben der Mia aus Kandel“.
Spielen wir das Ganze an einem anderen Fall durch: Zwei Tage nach Kandel, am 29. Dezember, ersticht ein 49-jähriger Mann in einem Einkaufszentrum in Halle seine 40-jährige Frau. Auch dieses Ereignis geht als Polizeimeldung raus, wieder tickert die Deutsche Presseagentur. Und doch bleibt es bei simplen Meldungen in der Regionalberichterstattung. Wir verlinken diese in der Onlineversion dieses Artikels nicht, weil das Opfer ein Recht darauf hat, in Ruhe gelassen zu werden. Genau darum geht es nämlich.
Man hätte hingegen auch darüber schreiben können, dass hier ein Russe eine Ukrainerin ermordet hat. Dass es sich womöglich um das tragische Ende einer ostdeutschen Migrationsgeschichte handelt. Könnte ja sein. Kann aber auch nicht sein. Klar ist: Der Fall hat überregional null Relevanz.
Der Name ist: Rassismus
Es stimmt natürlich, dass Gewalt gegen Frauen in Beziehungen häufig nicht ernst genommen, nicht genug politisiert wird. Und doch: Fälle wie der in Kandel, wie der in Halle, gab es 2017 zuhauf. Ein halbes Dutzend (ohne Beteiligung von Flüchtlingen) findet sich auf Anhieb in den Archiven der Regionalpresse. Keiner davon wurde zum Anlass genommen, männliche Gewalt in Beziehungen zu beklagen.
Weil eben, so hart das klingt, der Einzelfall dafür kein Gradmesser sein darf. In der statistischen Häufung, in den Trends liegt die Relevanz: Jährlich werden laut Kriminalstatistik etwa 150 Frauen von ihrem (Ex-)Partner umgebracht.
Das Betrauern Einzelner jedoch ist nicht Aufgabe der Presse. Opfer und Angehörige verdienen Schutz vor Gaffern. Und ja, auch ein mutmaßlicher Totschläger verdient Schutz vor politischer Instrumentalisierung. Wenn bei einem Afghanen andere Maßstäbe angelegt werden, hat das einen Namen: Rassismus.
Inzwischen ist das Ereignis in Kandel natürlich doch von überregionalem Interesse. Durch die Aufmerksamkeit in den sozialen Medien, die ARD-Stellungnahme und die jüngsten Forderungen nach Altersprüfung und schnellerer Abschiebung lässt sich das Ereignis nicht mehr auf die lokale Ebene runterkochen. Ist deshalb in Zukunft jede Vorsicht seitens Redaktionen bei vergleichbaren Fällen verzichtbar? Hoffentlich nicht.
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