Debatte Wahrnehmung von Gewalt: Nirgendwo ein Gewalttäter mit Macht
Seit dem G20-Gipfel wird über Gewalt debattiert. Aber die Frage ist: Für wen ist was wann Gewalt? Die meiste Gewalt ist für uns unsichtbar.
D ie Debatte über Gewalt, wie sie seit dem G20-Gipfel in Hamburg geführt wird, hat einen blinden Fleck. Sie spart nämlich die Frage der Wahrnehmung aus: Für wen ist was wann Gewalt? Eine Antwort darauf zu suchen, ist nicht weniger als der Kern emanzipatorischen Denkens. Dazu drei Anregungen.
Erstens: Die tatsächliche Dimension institutioneller und struktureller Gewalt setzt sich selten in unsere Alltagswahrnehmung um. Deshalb wirkt ein Jean Ziegler, der immer wieder die blanken Zahlen des „Imperiums der Schande“ benennt, die täglich Verhungernden, wie ein Don Quichotte der Weltöffentlichkeit, ein verrückter Sehender, irre in seinem Unbeirrtsein.
Framing, eigentlich ein Begriff der Medienwissenschaft, prägt unsere Sicht von Gewalt: Wir blicken durch einen zu kleinen Rahmen. In diesem Ausschnitt wirkt, wer sich gegen das große institutionalisierte Unrecht auflehnt, immer falsch, weil der eigentliche Gegner nicht sichtbar ist. Unter westeuropäischen Bedingungen leidet oppositionelle Gewalt dann an einer doppelten Unangemessenheit: Sie ist einerseits zu klein, weil sie den Agenten der institutionellen Gewalt nicht weh tut. Und andererseits zu groß, weil sie die Falschen trifft, die bloßen Statthalter, die Unbeteiligten.
Zweitens: Unser Verhältnis zur Gewalt ist nur psychiatrisch zu verstehen. Wir sind süchtig nach ihr, wir konsumieren Gewalt durch Nachrichten und Unterhaltungsmedien in einem zuvor nie gekannten Ausmaß – und wir tabuisieren sie zugleich.
In jedem Fernsehkrimi geschändete Mädchen, abgeschnittene Finger, Leichen. Obligatorisch die Szene beim Rechtsmediziner, damit wir die Leiche noch mal in Naheinstellung haben, bläuliches Fleisch, gewendet nach allen Seiten. Daneben, wie unverbunden, die Tausenden Toten im Mittelmeer, doppelt unsichtbar, versunken im Meer und nie gehoben über den Level von Verdrängung hinaus. Fast müsste man den Identitären, die im Meer Rettung zu verhindern suchen, dankbar sein: Sie entschleiern die institutionelle Gewalt, machen sichtbar, dass Tod oder Leben eine Folge von Entscheidungen ist.
Süchtig danach, Gewalt zu konsumieren
Wie wir uns nähren am Konsum von Gewalt, mit der wir scheinbar nichts zu tun haben, entblößt gerade ungewollt eine ARD-Eigenwerbung, die solche Sendungen als „schwere Kost“ bezeichnet. Viele Medien lechzen nach Gewalt, und es bleibt im Dunkeln, ob sie ihr Publikum damit erziehen oder nur dessen verborgene Gier spiegeln. Zahllos die Vergewaltigungsfantasien, die in WLAN-Netze von Schrebergartenkolonien eingetippt werden.
Drittens: Es ist eine Mär, dass es in der politischen Auseinandersetzung eine klare Grenze zwischen legitimer und nicht legitimer Gewalt gäbe. Welche Regime unter Einsatz von Gewalt bekämpft werden dürfen, das unterliegt immer dem Kriterium der Opportunität. Jüngstes Beispiel: Venezuela. Die schöne durchtrainierte Steinewerferin wird zur Fotoikone hiesiger Medien; zugleich erkennt das Auswärtige Amt ein formell illegales Referendum der Opposition als „legitimen Ausdruck“ des Wählerwillens an.
Wie zögerlich wurde der Putschversuch in der Türkei verurteilt – und was wäre, wenn morgen gegen Erdoğan geputscht würde? Iran: Neue US-Gedankenspiele über einen „Regimechange“, während gerade die letzten Akten über den Staatsstreich von 1953 freigegeben wurden. Und ach, VW Brasilien soll mit einem Folterregime paktiert haben?
Die Bewertung des Motivs entscheidet
Die westlichen Nationen haben eine lange Geschichte der gewaltförmigen Einflussnahme, über die regelmäßig mit Jahrzehnten Verspätung berichtet wird, und dann in einem Tonfall, als sei derartiges in der Gegenwart ganz und gar unmöglich. Schmutzige Gewalt war immer gestern.
Ob ein Akteur als Oppositioneller, Krawallmacher, Gewalttäter oder Terrorist bezeichnet wird, hängt davon ab, wie seine Motive bewertet werden, zumal durch die Medien. Meist herrscht hier der seltsam gleichklingende Schnellzugriff der Bewerter; nur in Bezug auf Palästinenser geht es oft holperiger zu: Man will sich ein bisschen von der israelischen Terminologie absetzen, doch nicht allzu sehr. Auch zeigt dieses Beispiel: Wenn Tausende etwas tun, was bei einem Einzelnen als illegitim erachtet wird, gewinnt Handeln an Legitimität.
Der Begriff Gewalttäter, sprachlich scheinbar neutral, ist bemerkenswert ideologisch aufgeladen. Selten finden sich derart Bezeichnete in der gutbürgerlichen Mitte der Gesellschaft. Hässlichster Missbrauch von Schutzbefohlenen bei den Regensburger Domspatzen, aber weit und breit kein Gewalttäter. Das Wort zieht eine Grenze, es meint immer die da draußen, dunkel in Vermummung oder Teint, und wir betrachten sie wie bei „XY…ungelöst“ schaudernd aus der warmen Stube heraus. Der Gewalttäter ist das Böse außerhalb unserer selbst.
Bauzäune einreißen als Gewalt?
Dass dieses Wort die Beschädigung von Sachen mit der Gewalt gegen Menschen sprachlich gleichstellt, das war nicht immer so. Am Beginn der Anti-AKW-Bewegung stand vor 40 Jahren die Parole „Der Bauplatz muss wieder zur Wiese werden“, das schloss das Niederreißen der Bauzäune selbstverständlich ein, und keiner hätte in diesem Zusammenhang von Gewalt gesprochen.
Das staatliche Gewaltmonopol zu einem Goldenen Kalb zu machen und es auch noch als Gewaltmonopol der Polizei misszuverstehen, das war das Endprodukt einer langen Auseinandersetzung bei den Grünen. Begleitet wurde sie von der zunehmenden Fixierung auf Parlamentarismus. Denn Militanz (auch die gewaltfreie) geht davon aus, dass man den Mächtigen direkt entgegentreten kann und muss, weil sie sich dem Einfluss eines Parlaments ohnehin entziehen.
Bertolt Brecht
Man mag dem zustimmen oder nicht. Sicher aber ist: Was in einem emanzipatorischen Diskurs unter Gewalt verstanden wird, daran lässt sich ermessen, wie weit die intellektuelle Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse gediehen ist.
Der Brecht’sche Satz „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ hat heute eine irgendwie moosbesetzte Radikalität. Es ginge darum, solche Sätze neu zu denken, neu zu sprechen.
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