Nato-Abwehrverbund in Litauen: Die Abschreckungsmaßnahme
Zur Prävention gegen Russland schickt die Bundeswehr Soldaten und Kriegsgerät ins Baltikum. Die Wirkung der Maßnahme ist umstritten.
Es ist glatt auf den Anhängern, am Morgen fiel Eisregen. Und die Verladeaktion ist für die Soldaten am Gleis nicht alltäglich. „Eine Bahnverladung in dieser Größenordnung wird nicht mehr regelmäßig durchgeführt. Insofern ist es schon eine Herausforderung“, sagt der Oberleutnant, der die Fahrer an der Rampe einweist.
Insgesamt 43 Militärfahrzeuge fertigen die Soldaten an diesem Dienstag in Grafenwöhr ab. Die meisten, darunter zwei Boxer-Transportwagen mit Stahlpanzerung und Maschinenkanone auf dem Dach, sind eigentlich als Teil des Panzergrenadierbataillons 122 in verschiedenen nordbayerischen Stützpunkten stationiert.
Hier, in Grafenwöhr an der Verladerampe des US-Truppenübungsplatzes, werden sie nun auf Güterwagen festgezurrt. In den nächsten vier Tagen werden sie auf der Schiene in Richtung Nordosten fahren und über Polen nach Litauen gelangen. Das Ziel: Der Militärstützpunkt in Rukla, etwa 80 Kilometer nordwestlich von Vilnius.
190 Fahrzeuge, 450 Soldaten
Bis Ende Februar werden 190 Fahrzeuge, darunter auch schwer bewaffnete Leopard-2-Kampfpanzer und Schützenpanzer vom Typ Marder, zusammen mit 450 deutschen Soldaten nach Litauen verlegt. Dort treffen sie auf Truppen und Material aus Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Norwegen. Gemeinsam werden die insgesamt rund 1.000 Soldaten unter deutscher Führung zur „Nato-Battlegroup Lithuania“.
Die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten hatten auf ihrem Warschauer Gipfeltreffen im Juli 2016 beschlossen, den Verband einzurichten. Gleichzeitig bildet die Nato drei ähnliche Kampfgruppen in Estland, Lettland und Polen. Als „Abschreckungsmaßnahme“ gegen Russland und Reaktion auf die Ukrainekrise sollen sie laut dem Gipfelbeschluss „eindeutig Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit demonstrieren“.
Tatsächlich gab es in der Geschichte der Nato noch nie einen vergleichbaren Truppenaufbau in Osteuropa. Parallel hat die US-Army unter eigenem Kommando schon Anfang Januar eine schwer bewaffnete Kampfbrigade mit rund 4.000 Soldaten durch Deutschland nach Polen verlegt. Von dort wird die Einheit auf verschiedene osteuropäische Länder verteilt. Material für eine weitere Brigade lagern die Amerikaner in den Niederlanden ein. Auch das soll der Abschreckung Russlands dienen.
Als Einsatz im eigentlichen Sinne gilt dies nicht. Offizielle Sprachregelung von Bundesregierung und Bundeswehr: Die deutschen Soldaten sollen in Litauen üben. „Nach Abschluss der Verlegung starten wir ab März Ausbildungen und Übungen mit den multinationalen Partnern und selbstverständlich auch mit den litauischen Kameraden“, sagt Oberstleutnant Lars Obst, stellvertretender Kommandeur des Bataillons.
Mission: Überraschungsangriffe verlangsamen
Was genau werden die Soldaten in Litauen trainieren? Einen Hinweis bieten die Vorbereitungen der Panzergrenadiere am Ende des vergangenen Jahres. Im Dezember übten sie in Grafenwöhr schon mal für die kommenden Monate, wie sie die Offensive eines Feindes durch gezielte Gegenangriffe verlangsamen können.
Dieser Fokus kommt nicht von ungefähr. Die Rand Corporation, eine amerikanische Denkfabrik mit engen Verbindung zur US-Armee, spielte noch vor den Warschauer Nato-Beschlüssen verschiedene Szenarien für einen Angriff auf das Baltikum durch. Militärexperten legten eine Karte der Region auf einen Tisch und verschoben wie in einem Brettspiel verschiedene Armee-Einheiten darauf hin und her.
Was Litauer sagen: Die Mehrheit der Litauer begrüßt die Ankunft der deutschen Soldaten. Das hat das Meinungsforschungsinstitut RAIT herausgefunden, das im Auftrag des litauischen Verteidigungsministeriums die Bevölkerung des baltischen Staates im Dezember nach ihrer Meinung über die anstehende Truppenverlegung befragte.
67 Prozent der Befragten stimmen demnach der Aussage zu, dass der neue Gefechtsverband unter deutscher Führung dabei helfe, „aggressive Staaten abzuschrecken“. 81 Prozent würden eine permanente Stationierung ausländischer Nato-Truppen im Land befürworten.
Was Deutsche sagen: Die deutsche Bevölkerung begeistert sich viel weniger für die Truppenverlegung. Laut einer Umfrage des Emnid-Instituts im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung sagten im vergangenen Jahr 57 Prozent der Befragten, im Falle eines russischen Angriffs solle die Bundeswehr den Balten nicht beistehen. Nur 40 Prozent würden eine permanente Stationierung von Nato-Truppen in Osteuropa befürworten.
In ihrem damaligen Szenario gingen die Wissenschaftler davon aus, dass Russland für einen Überraschungsangriff 27 Bataillone mit jeweils rund 1.000 Soldaten zusammenziehen könnte – ordentlich ausgerüstet und ausgebildet. Die schwachen baltischen Armeen und ihre Verbündeten konnten sich demnach kurzfristig nur mit zwölf Bataillonen dagegen stemmen – leicht bewaffnet, ohne einen einzigen Kampfpanzer und auf eine schnelle Truppenverlegung nicht vorbereitet. Das Fazit der Experten vor exakt einem Jahr: Wenn die russische Regierung es will, können ihre Truppen innerhalb von sechzig Stunden vor Tallinn und Riga stehen.
Als Gegenmaßnahme schlugen die Strategen dem Verteidigungsbündnis vor, sieben einsatzbereite Brigaden mit jeweils mehreren tausend Soldaten aufzustellen. Nach Auffassung der Denkfabrik könnten auch diese sieben Brigaden einen Überraschungsangriff zwar nicht zurückschlagen, aber zumindest für eine Weile aufhalten. Das Kalkül: Da den Russen höhere Verluste drohten, werde ein Angriff unwahrscheinlich.
Eher ein symbolischer Beistand
Tatsächlich verlegen die Bundeswehr und ihre Nato-Partner jetzt weit weniger Einheiten in Richtung Osten. Im Ernstfall könnten sie einem Angriff nicht viel entgegensetzen. Zumindest symbolisch soll die Truppenverlegung den Polen und Balten dennoch den westlichen Beistand versichern. Allein dieses Zeichen könnte Russland abschrecken.
Das ist die eine Sichtweise. Es gibt aber auch eine andere. Demnach muss das Konfliktrisiko durch die Truppenverlegung nicht unbedingt sinken. Es könnte auch steigen.
„Im Nebel der hybriden Kriegsführung könnten auf die Nato-Truppen Aufstände der russischsprachigen Minderheiten zukommen, unterstützt und angeleitet durch Russland“, schreibt Martin Zapfe, Politikwissenschaftler an der ETH Zürich, in einer Analyse. Ein hypothetisches Szenario, das nach den Erfahrungen aus der Ukrainekrise aber nicht vollkommen undenkbar ist. Reagiert eine Nato-Einheit unbesonnen auf so eine Konfrontation, könnte die Situation schnell eskalieren – und dem Kreml möglicherweise einen Vorwand dafür bieten, zum Schutz der Minderheiten einzugreifen.
Ein Akt der Provokation
Eine andere Befürchtung: Schon die Truppenverlagerung an sich könne in Moskau als Provokation empfunden werden und die Spannungen zwischen Ost und West verstärken. „Statt auf Panzer im Osten und Waffenexporte weltweit zu setzen, braucht unser Land eine Debatte über eine neue europäische Friedensordnung, die nicht ohne bessere deutsch-russische Beziehungen zu haben seit wird“, sagt Katja Kipping, Vorsitzende der Linkspartei. Ihr zufolge verstoßen die Maßnahmen zudem gegen die Nato-Russland-Grundlagenakte.
In dem Abkommen aus den 1990er Jahren kündigte die Nato an, keine „zusätzlichen substantiellen Kampftruppen dauerhaft [zu] stationieren“. Aus Sicht der Bundesregierung verstößt die Truppenverlagerung allerdings gar nicht gegen dieses Prinzip: Mit Rücksicht auf das Abkommen werden die deutschen Soldaten genau genommen nicht dauerhaft in Litauen stationiert. Sie bleiben für sechs Monate – und werden dann im Rotationsprinzip durch neue Bundeswehrsoldaten ersetzt.
Militärisch gesehen hat das auch noch einen ganz praktischen Vorteil. Die Panzergrenadiere aus Nordbayern ziehen in einem halben Jahr mit ihrem gesamten Material wieder aus Rukla ab. Als Ersatz dafür wird das nächste deutsche Bataillon seine Fahrzeuge auf Züge verladen und in Richtung Litauen schicken. Was das unfallfreie Auffahren auf Bahnanhänger angeht, sammelt die Bundeswehr also weiter Erfahrung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen