Soziologe über die Übergriffe in Köln: „Die CSU entdeckt die Lügenpresse“
Armin Nassehi über patriarchale Netzwerke, salonfähigen Rassismus und eine nach rechts driftende Sehnsucht nach einfachen Antworten.
taz.am wochenende: Herr Nassehi, nach den massiven sexuellen Übergriffen auf Frauen am Kölner Hauptbahnhof gibt es eine aufgeheizte Debatte. Warum scheint es so schwer zu sein, angemessen und sachlich über die Ereignisse in Köln zu sprechen?
Armin Nassehi: Die Debatte ist sehr vergiftet. Das liegt daran, dass viele Akteure diese schrecklichen Ereignisse instrumentalisieren. Das geht so leicht, weil wir in der Bundesrepublik erstens diesen Diskurs über Einwanderung nicht angemessen geführt haben. Die eine Seite wollte nicht wahrhaben, dass wir seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland sind, und hat sich dieser Diskussion verweigert. Die andere Seite wollte lieber nicht darüber sprechen, dass Einwanderung auch Probleme produziert. Wir haben hier keine entsprechende Diskurskultur entwickelt.
Und zweitens?
Zweitens ist wichtig, dass es derzeit in Europa eine Sehnsucht nach einfachen Erklärungen für eine außerordentlich komplizierte Welt gibt und damit ein Rechtsruck einhergeht. In vielen Ländern haben diejenigen, die einfache Antworten anbieten, starken Zulauf: Denken Sie an Polen, an Frankreich, an Dänemark, an Ungarn. Es ist fast ein soziologisches Grundgesetz, dass in unübersichtlichen Lagen nach Ankern gesucht wird, die man eindeutig ansprechen kann. Fremde werden da schnell zu Sündenböcken.
Bislang weiß man wenig über die Täter, die die sexuellen Übergriffe verübt haben. Mal ist von „Nordafrikanern“, mal von polizeibekannten Intensivtätern die Rede. Jetzt heißt es, dass unter den Tatverdächtigen auch Flüchtlinge seien. Die Debatte aber dreht sich von Anfang an vor allem um Flüchtlinge. Wie kommt das?
Das ist im Monent fast ein Automatismus. Derzeit heißt „Migration“ fast automatisch „Flüchtlinge“, heißt „Überforderung der Gesellschaft“, heißt „der Rechtsstaat ist außer Kraft gesetzt“. Es gibt eine Kaskade von Assoziationen bis hin zum vermeintlich endgültigen Beweis, dass Merkels Flüchtlingspolitik falsch gewesen sei. Ein kleiner Teil krimineller junger Männer wird als Pars pro Toto genommen und bestätigt simplifizierende Beschreibungen der Welt. Kurz vor der Flüchtlingskrise haben wir über Griechenland diskutiert; das war so kompliziert, dass es kaum jemand verstanden hat. Für die Beschreibbarkeit der Welt war die Flüchtlingskrise geradezu ein Geschenk – und für Pegida oder die AfD wäre es ohne die Flüchtlinge gar nicht weitergegangen. Ob in Köln nun Asylbewerber beteiligt waren oder nicht, daraus einen Generalverdacht gegen Flüchtlinge abzuleiten ist perfide.
Der 55-Jährige ist Professor für Soziologie in München. Er ist der Sohn einer Schwäbin, die aus einer „sehr konservativen katholischen Familie“ stammt, und eines Persers. Seit 2012 ist er Herausgeber der Zeitschrift Kursbuch.
Das Hetzen gegen die „Lügenpresse“ war bislang auf dieses Spektrum begrenzt. In Zusammenhang mit den Kölner Ereignissen spricht auch der ehemalige Bundesinnenminister Friedrich von der CSU von einem „Schweigekartell der Medien“ und Nachrichtensperren. Was passiert da gerade?
Ja, in Wildbad Kreuth hat auch die CSU die Lügenpresse entdeckt. Bislang kannte man das nur von rechtsaußen. Die Medien selbst sind in einer schwierigen Situation. Allein die Entscheidung, ob man die Herkunft von Tätern benennt, ist kompliziert. Entweder die Presse berichtet vollständig und wahrheitsgemäß, dann muss sie über die Herkunft der Täter schreiben. Oder sie hält sich an den Pressekodex, der besagt, man benennt diese nur, wenn es für den Fall relevant ist, um keine Vorurteile zu schüren. Das sind differenzierte Positionen, aber die Leute denken, dass wir gelenkte Medien haben.
Auch von Leuten, die eigentlich ganz aufgeklärt und vernünftig sind, hört man inzwischen im persönlichen Gespräch oder in den sozialen Netzwerken: Mal schauen, wie das nun wieder verharmlost wird. Sickert das Misstrauen auch in das linke, grün-alternative Milieu?
Ich glaube, dass in diesem Milieu besonders die Angriffe auf Frauen eine Ambivalenz produzieren. Das Thema sexuelle Gewalt steht mit dem Thema Einwanderung in Konflikt.
Was macht die Bewegung vor Ort? Termine wie Infoabende, Diskussionsveranstaltungen, Demonstrationen und Versuche der praktischen Solidarität sammeln wir im Terminfeed zum Schwerpunkt Flucht und Migration auf bewegung.taz.de.
Auch Grüne-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sah sich genötigt, zu sagen, es dürfe keinen Strafbonus für Ausländer geben, das Gesetz gelte für jeden, „egal ob er aus Dresden oder aus Damaskus stammt“ – und schafft so die Assoziation mit syrischen Flüchtlingen.
Man kann an diesen Äußerungen sehr gut sehen, wie die Assoziationskaskade funktioniert, wenn man nicht richtig darüber nachdenkt. Da ist alles mit drin: Syrien, die Insinuierung, dass es einen Ausländerbonus gebe, den es niemals gegeben hat, und die naive Vorstellung, eine Politikerin könnte der Justiz sagen, was diese zu tun habe. Meine Interpretation ist, dass in diesem Spektrum die sexuellen Übergriffe zu stärkeren Emotionen führen. Und man kann auch hier schön beobachten: Sobald die Dinge emotionalisiert werden, leidet die Urteilskraft.
Sie haben die Instrumentalisierung der Übergriffe in Köln angesprochen. Wie funktioniert das genau?
Bevor man genau weiß, was eigentlich passiert ist, sind sich viele Beobachter darin einig, dass die Übergriffe selbstverständlich eine Folge der Flüchtlingskrise sind. Diese Generalisierung verhindert übrigens eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, welchen kulturellen Ballast manche Immigranten tatsächlich mit sich herumschleppen. Man scheint also nicht wirklich daran interessiert zu sein, was passiert ist.
Hat Sie diese Dynamik überrascht?
Ja, das hat sie. Obwohl alle die Rollen spielen, die sie üblicherweise spielen. Diejenigen, die für alle Probleme der Welt sichtbare, angeblich homogene Gruppen zum Sündenbock machen, tun dies jetzt auch. Dass allerdings jene, die bislang sexuelle Gewalt eher verharmlost haben, sich jetzt dieses Thema auf ihre eigene Fahne schreiben, ist lächerlich, zumal man wissen kann, dass der größte Anteil sexuell motivierter Kriminalität aus dem Nahbereich der Betroffenen stammt. Und es wundert mich, dass Leute, die eigentlich aus der Mitte der Gesellschaft kommen, wie Justizminister Maas, von einem Zivilisationsbruch sprechen – ein Begriff, den wir normalerweise für die Verbrechen des Nationalsozialismus verwenden. Maas wollte damit wohl Handlungsfähigkeit simulieren.
Spielt aus Ihrer Sicht auch die andere Seite die Rolle, die Sie von ihr erwartet haben?
Ja, aber das andere Spektrum, zum Beispiel die Feministinnen um den „Aufschrei“, argumentieren deutlich differenzierter. Aus feministischer Perspektive ist das ja ein interessanter Konflikt: Auf der einen Seite dreht es sich um Übergriffe von Männern auf Frauen, auf der anderen Seite hat man das Problem, dass man, wenn man die Täter vielleicht genau identifiziert, in Rassismusverdacht gerät. Aber wir haben ohne Frage Probleme mit manchen Einwanderergruppen, es gibt eine in Migrantencommunities situierte Bandenkriminalität und eine Clankriminalität. Es gibt patriarchale Netzwerke und Parallelordnungen. Das wissen wir, und darüber haben wir in der Öffentlichkeit vielleicht zu wenig geredet. Das macht es leichter, dies jetzt auszuschlachten und jedem, der irgendwie nordafrikanisch aussieht, dieses Label aufzudrücken. Aber diese Gruppe ist natürlich genauso heterogen wie der Rest der Bevölkerung.
Welche Rolle spielt das Bild des wilden, gefährlichen Arabers, der über deutsche Frauen herfällt, das immer wieder aufscheint?
Das ist natürlich ein rassistisches Stereotyp, das wir schon lange kennen. Ich selbst habe mal in einem Artikel im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise über die „Maskulinisierung des öffentlichen Raums“ gesprochen. Das wurde so rezipiert, als hätte ich gesagt, muslimische Männer seien per se gefährlich. Habe ich aber nicht.
Und was meinen Sie mit der „Maskulinisierung des öffentlichen Raums“?
Es ist eine empirische Tatsache, dass viele junge Männer nach Deutschland kommen, die nichts zu tun haben, die man auch zur Passivität zwingt. Aus der Forschung wissen wir, dass große Gruppen junger Männer, die nichts zu tun haben, Probleme produzieren – zunächst völlig unabhängig von Religion und Herkunft. Deshalb müssen wir ihnen die Möglichkeit geben, etwas zu tun. Das meine ich. Aber wir dürfen auch nicht die Augen davor verschließen, dass manche Dynamik migrantischer Problembereiche mit männlich dominierten Netzwerken zu tun hat, deren Ausdruck die Ereignisse in Köln auch waren. Schon diese Sätze zu sagen ist schwierig, weil sie sich wie kulturalisierende Vorurteile anhören. Aber ich fürchte, das sind sie nicht, zumal solche Diskurse über fehlgeleitete Männlichkeit auch in den arabischen Ländern selbst geführt werden. Manche Lernprozesse auf diesem Gebiet bei uns in Europa sind übrigens gar nicht so lange her.
Herr Nassehi, kippt der gesellschaftliche Diskurs über Flüchtlinge gerade?
Ich weiß es nicht. Diese Geschichte in Köln ist natürlich schrecklich – für die Betroffenen, aber auch für einen differenzierten Diskurs. Aber ich bin ein optimistischer Mensch: Vielleicht erkennen wir jetzt endlich, dass wir einen gesellschaftlichen Diskurs darüber brauchen, wie wir Einwanderung organisieren.
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