Prävention gegen Radikalisierung: Die Frage nach dem Wie
Die Regierung will verstärkt gegen die Radikalisierung junger Muslime vorgehen. Doch wie kommt man an sie ran, bevor es zu spät ist?
„Hi, Leute“, sagt Hatice Schmidt, lange dunkle Haare, große Brille, „heute möchte ich mit euch über den Islam sprechen.“ Von Terrorismus, Salafismus und Dschihad sei derzeit viel die Rede, aber das könne doch nicht alles sein. Hatice Schmidt, 29 Jahre alt, selbst Muslima, und ihr Comic-Ich begeben sich auf die Suche nach der Umma, der islamischen Gemeinschaft. Ihr Fazit nach gut drei Minuten Video: Diese Gemeinschaft sei so vielfältig wie die Menschheit selbst.
Thomas Krüger hat das Video an die Wand werfen lassen. Der Chef der Bundeszentrale für politische Bildung steht an einem Pult im großen Saal des Mainzer Schlosses, das Bundeskriminalamt hat zur Herbsttagung geladen. 600 Gäste sind gekommen, Polizisten, Justizbeamte, Politiker, auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist dabei und Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen. Das Thema: Prävention gegen islamistischen Terrorismus.
Am Morgen hat BKA-Chef Holger Münch eine nationale Präventionsstrategie gefordert. Es ist der Mittwoch der vergangenen Woche, die Anschläge in Paris sind gerade fünf Tage her, am Abend zuvor wurde das Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden in Hannover kurzfristig abgesagt. Terrorgefahr.
Das Gegenangebot zu Pierre Vogel
Die Bundeszentrale hat Schmidts Video finanziert, als Teil einer ganzen Reihe über „Begriffswelten Islam“. Einen Clip über das Kalifat mit dem YouTube-Star LeFloid, der fast 3 Millionen Abonnenten hat, gibt es bereits. „Jugendliche sollen motiviert und befähigt werden, mündig, kritisch und aktiv an den Debatten zum Thema Islam teilzuhaben und sich eine eigene Meinung zu bilden“, sagt Krüger. Für ihn ist das eine Maßnahme gegen die Ausbreitung extremistischer Ideologie. Und damit wohl auch ein Gegenangebot zu Pierre Vogel und dem Verein „Die wahre Religion“, die die bekanntesten salafistischen Seiten im Netz betreiben.
Die Täter der Pariser Anschläge sind zum großen Teil Europäer. Junge Männer, die in Frankreich und Belgien aufgewachsen sind, sich dort radikalisierten. Einige von ihnen zogen in den Dschihad nach Syrien und kehrten im Auftrag der Terrormiliz „Islamischer Staat“ zurück. Gemeinsam töteten sie 130 Menschen und verletzten viele weitere schwer. Ein Anschlag, da sind sich die Sicherheitsbehörden einig, könnte auch in Deutschland geschehen.
Der Glauben: Der Salafismus ist eine rückwärtsgewandte und extrem konservative Strömung des Islam. Salafisten behaupten, sie verstünden den Islam wie die Salaf, die Gefährten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert. Nicht alle wollen ihre Vorstellungen mit Gewalt durchsetzen, aber keiner akzeptiert abweichende Deutungen des Korans. Ihre Unterteilung in Gut und Böse ist strikt. In Deutschland gibt es laut Verfassungsschutz etwa 7.500 Salafisten.
Die Gefahr: Mehr als 420 sogenannte islamistische Gefährder leben in Deutschland, ihnen trauen die Sicherheitsbehörden Gewalttaten zu. 750 Menschen, meist junge Männer, sind aus Deutschland nach Syrien und in den Irak ausgereist, um sich dort dem Dschihad anzuschließen. 250 von ihnen sollen zurückgekehrt sein. Die Behörden gehen davon aus, dass 70 davon im Umgang mit Waffen geschult sind und Kampferfahrung haben.
Deshalb schauen sie mit Sorge auf die sogenannten islamistischen Gefährder, auf die Ausreisen mit dem heiligen Krieg und die Rückkehrer. Und auf die salafistische Szene, die stetig wächst. Auch, wenn nicht alle Salafisten gewaltbereit sind. Dort, wo ein vermeintlich ursprünglicher Islam gepredigt wird, liegt das Rekrutierungspotenzial der Dschihadisten. Die Frage ist: Wie kommt man an diese Leute ran, bevor es zu spät ist?
Den Sicherheitsbehörden ist inzwischen klar: Um Anschläge zu verhindern und den Salafisten ihre Attraktivität für junge Menschen zu nehmen, braucht es mehr als Polizei und Justiz. Vielleicht können ja Videoclips zumindest einen kleinen Beitrag leisten, und zwar schon zu einem Zeitpunkt, in dem der Terror noch weit entfernt scheint.
Wie viele Projekte es gibt, kann niemand sagen
Vierzehn Jahre nach 9/11 steht die Prävention gegen islamistische Radikalisierung in Deutschland noch am Anfang. Eine Gesamtstrategie gibt es nicht, stattdessen einen Flickenteppich an Angeboten, weitgehend unkoordiniert, oft schlecht finanziert und überfordert.
Wie viele Projekte es bundesweit gibt, kann niemand sagen. Einige wenige bekommen Geld vom Bundesinnenministerium, deutlich mehr aus dem Jugendressort. Die Prävention in Deutschland, urteilt der renommierte Terrorismusforscher Peter Neumann vom Londoner King’s College, sei „Kraut und Rüben“.
„Es wurde viel Zeit vertan“, sagt die Kriminalistin Wiebke Steffen. Der salafistische Prediger Pierre Vogel füllte bereits öffentliche Plätze, junge Männer zogen von Deutschland aus in den Dschihad, aber viele Politiker verkannten oder ignorierten die Gefahr. Bei den Ursachen der Radikalisierung stochere man noch immer im Nebel, so Steffen, und die Arbeit sei oft „wenig professionell“. Dabei ist in der Prävention die Gefahr groß, durch Fehler das Problem zuzuspitzen.
Erst im vergangenen Jahr haben die ersten Bundesländer Präventionsprogramme aufgelegt, Hessen etwa und Nordrhein-Westfalen. Einige Kommunen engagieren sich, manche erst, nachdem viele junge Männer und Frauen von dort nach Syrien ausreisten.
Drei Stufen der Prävention
Prävention findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Experten unterscheiden zwischen der universellen Prävention, die sich wie die Videos der Bundeszentrale an keine bestimmte Gruppe richtet. Das Ziel: sie gegenüber radikalen Ideologien zu sensibilisieren. Die zweite Stufe, die selektive Prävention, zielt auf jene, die bereits ein Risiko aufweisen, bei der dritten Stufe spricht man von Deradikalisierung.
Ufuq ist ein Träger aus Berlin-Neukölln, den zwei Islamwissenschaftler 2007 gegründet haben. Sein Ziel: nicht mehr über die „Einbürgerung des Islam“ diskutieren, sondern diese gestalten. Inzwischen wird Ufuq – „Horizont“ auf Arabisch – bundesweit als Ansprechpartner für die pädagogische Arbeit zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus geschätzt – und rege angefragt. Meist kommen die E-Mails oder klingelt das Telefon, wenn es Probleme gibt.
Wie wollen wir leben?, lautet die Leitfrage, mit der Ufuq-TeamerInnen, oft selbst mit muslimischem Hintergrund, in Schulklassen oder Jugendeinrichtungen gehen. Je nach Zusammensetzung der Jugendlichengruppe wird das Konzept modifiziert. Filme zu Themen wie Scharia und Grundgesetz, Islamfeindlichkeit oder Geschlechterrollen stoßen die Diskussion an. Wie wollen Mädchen und Jungen zusammenleben? Ist es richtig, dass Mädchen weniger dürfen als Jungen? Und welche Rolle spielt dabei die Religion? Über solche Fragen wird dann diskutiert.
„Wir geben den Jugendlichen Raum, über ihre Vorstellungen von Zugehörigkeit, Identität und Religion zu sprechen“, sagt Götz Nordbruch, einer der beiden Ufuq-Gründer. Das seien Fragen, die viele umtreiben – und auf die sie oft keine Antworten fänden. Weder bei den Eltern noch in der Moschee oder der Schule. „In Städten wie Berlin, Hamburg oder Bremen sind viele Lehrer nicht bereit, religiöse Themen aufzugreifen, weil sie eine klare Trennung zwischen Schule und Religion wollen“, sagt Nordbruch. Doch die Jugendlichen beschäftige der Islam, und zwar oft gar nicht, weil sie religiös seien, sondern als Frage ihrer Identität. Jugendliche, die sich damit auseinandersetzen, sagt Nordbruch, seien weniger anfällig für die einfachen Weltbilder der Salafisten.
Benachteiligung? Diskriminierung? Fehlende Bildung?
Lange musste sich Ufuq von Projekt zu Projekt hangeln, immer in Sorge um die weitere Finanzierung. Seit diesem Jahr bekommt der Verein – wie 26 andere Träger – strukturelle Förderung aus dem Bundesjugendministerium. Fünf Jahre lang. „Ein echte Erleichterung“, sagt Nordbruch.
Insgesamt gibt das Ministerium im Rahmen des Programms „Demokratie leben!“ in diesem Jahr 5,8 Millionen Euro für Prävention gegen islamistischen Extremismus aus, in den Jahren zuvor waren es durchschnittlich 2 Millionen. Im kommenden Jahr werden es 7,5 Millionen Euro sein.
Ufuq, so der Arbeitsauftrag, soll wissenschaftliche Erkenntnisse in die pädagogische Praxis überführen. Allerdings sind diese rar gesät. Michael Kiefer ist Islamwissenschaftler an der Uni Osnabrück, seit vielen Jahren ist er sowohl in der Wissenschaft als auch in der Jugendarbeit aktiv. Letztlich, sagt er, wisse man wenig darüber, wie islamistische Radikalisierung wirklich ablaufe – und wo Prävention sinnvoll ansetzen kann. „Da gibt es viele ungedeckte Behauptungen, nur wenig ist wissenschaftlich wirklich belegt.“ Dann zählt er auf: soziale Benachteiligung? Diskriminierung? Fehlende religiöse Bildung? Das könne alles eine Rolle spielen. Für jeden dieser Faktoren lassen sich aber auch Gegenbeispiele finden.
Das Jugendministerium fördert jetzt einen Forschungsverbund, an dem das Institut für Islamische Theologie an der Uni Osnabrück, das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld und das Deutsche Jugendinstitut beteiligt sind. Wie radikalisieren sich Menschen? Wie kann dieser Prozess unterbrochen oder gar umgedreht werden? Solchen Fragen wollen sie nachgehen. Die Bielefelder um Professor Andreas Zick untersuchen dafür Gerichtsakten. Die Osnabrücker, darunter Kiefer, befragen Leute aus Dinslaken-Lohberg, die sich entweder selbst radikalisiert haben oder mit Radikalisierten verwandt oder befreundet sind. Und das Deutsche Jugendinstitut macht Interviews. Die ersten Ergebnisse sollen im Frühjahr 2017 vorliegen.
Ufuq hat inzwischen zehn Mitarbeiter auf sechseinhalb Stellen, gerade hat der Träger ein zweites Büro in Augsburg eröffnet, von dort sollen im Auftrag der bayerischen Landesregierung Einrichtungen vor Ort beraten und vernetzt werden: Schulen und Jugendeinrichtungen, aber auch Wohlfahrtsverbände und die Polizei. Dabei gehe es nicht nur um die Arbeit mit jungen Leuten, sondern auch um Veränderungen in den Institutionen selbst, sagt Nordbruch.
„Ich bin kein Salafist mehr“
Dominic Schmitz, 28, graues Sweatshirt, gegelte Haare, gestutzter Backenbart, ist nicht im Auftrag eines staatlich geförderten Trägers unterwegs, sondern in eigener Mission. Er guckt direkt in die Kamera, hinter ihm hängt ein schwarz-weißes Fotoposter mit dem immer gleichen Frauenmund an der Wand, nur die Lippen sind in verschiedenen Knallfarben geschminkt. “Ich bin kein Salafist mehr“, sagt Schmitz ruhig in dem YouTube-Video, „aber ich bin immer noch Muslim.“ Seinen Glauben, sein Denken, sein Handeln, all das wolle er sich nicht mehr von Anderen vorschreiben lassen.
Schmitz ist mit 17 zum Islam konvertiert und als Musa Almani schnell in die salafistische Szene gerutscht. Er war die rechte Hand des Predigers Sven Lau, der wie er aus Mönchengladbach stammt. Mit Pierre Vogel ist Schmitz nach Mekka gepilgert. Es gibt ein Video, in dem Vogel ihn zu seiner Konversion befragt, ins Netz gestellt als Beleg der erfolgreichen Missionsarbeit. Schmitz trägt ein traditionelles Gewand und eine Gebetsmütze, er ist gerade 18 Jahre alt. „Ich bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben“, sagt er.
„Ich hab Antworten gegeben wie auswendig gelernt“, so sieht es Schmitz heute.
Er warnt nun mit YouTube-Clips vor seinen alten Gefährten. Seine Videos sind eine Mischung aus Predigt und Pop. Mal spricht er nüchtern, mal rappt er, mal verkleidet er sich, um in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Er weiß, was die Salafisten so attraktiv für junge Leute macht: die Orientierung, die Gemeinschaft, der Sinn, das Gefühl, besser zu sein. „Das hat mich sehr erhöht“, sagt er. „Ich hatte damals wenig Selbstbewusstsein.“
Leute, lasst das sein!
Irgendwann aber habe er sich „wie ein Roboter gefühlt“. Langsam hat er sich dann von der Szene gelöst. Einer der Schlüsselmomente dabei: als einer seiner Freunde nach Syrien in den Dschihad zog. Gewalt passt für ihn nicht zum Islam. Schmitz tritt auch auf Fortbildungen für PädagogInnen und in Schulklassen auf. Ein Glücksfall für die Prävention.
Ein echter Joker sind Aussteiger, die noch weiter gegangen sind als Schmitz. Ein verurteilter Extremist etwa, der in der Szene glaubwürdig ist und sagt: Leute, lasst das sein! Ich hab da einen schweren Fehler gemacht. In England gibt es solche Aussteiger bereits, in Deutschland hat man mit Nazi-Aussteigern gute Erfahrungen gemacht, nach einem islamistischen suchen die Sicherheitsbehörden seit Langem. Ebrahim B., der derzeit in Celle vor Gericht steht, könnte ein solcher Joker werden.
B., 26, ist einer von mindestens 20 jungen Männern, die seit 2013 von Wolfsburg nach Syrien ausgereist sind. Ein Anwerber des IS hatte sie rekrutiert.
B. soll sich laut Anklage von Anfang Juni bis Ende August 2014 dem „Islamischen Staat“ angeschlossen haben und bereit gewesen sein, als Selbstmordattentäter zu sterben. Irgendwann aber setzte er sich ab. Direkt nach seiner Festnahme will B. angeboten haben, gegen den IS auszusagen. Noch vor Prozessbeginn hat er Journalisten ein Interview gegeben, die ARD hat es ausgestrahlt. B. ist der erste Rückkehrer, der öffentlich und ausführlich über seine Zeit bei der Terrorgruppe spricht, von der Gewalttätigkeit und Grausamkeit des IS berichtet. Er wolle andere davon abzuhalten, sich dem IS anzuschließen, sagt B. Vermutlich erhofft er sich auch eine geringere Strafe. Das Urteil soll Ende des Jahres fallen.
Dezentrale Organisation der Präventionsarbeit
Kiefer, der Islamwissenschaftler aus Düsseldorf, würde sich freuen, jemanden wie B. für seine Arbeit zu gewinnen. Wichtiger für ihn ist aber die Art und Weise, wie die Präventionsarbeit organisiert ist: dezentral, so wie „Wegweiser“, das nordrhein-westfälische Programm. Kiefer ist im Vorstand von Wegweiser Düsseldorf, einem der ersten vier Standorte, an vier weiteren wird derzeit gearbeitet. „Du musst die Akteure vor Ort kennen, damit es funktioniert“, sagt er.
In Fortbildungen versorgt Wegweiser Lehrer und Sozialarbeiter mit dem notwendigen Wissen und dem Handwerkszeug. Fällt den Pädagogen bei einem Jugendlichen etwas auf, können sie sich an die Beratungsstelle wenden. „Manche Lehrer reagieren lange gar nicht, andere gleich sehr hysterisch“, sagt Kiefer.
Am Anfang müsse also eine solide Recherche stehen: Was ist wirklich passiert? Hat sich das Verhalten des Jugendlichen verändert? Ist es eine besorgniserregende Entwicklung? Kiefer und seine Kollegen beraten, durchführen müssten den Prozess aber die jeweiligen LehrerInnen und SozialarbeiterInnen. „Prävention muss Teil des regulären pädagogischen Handelns werden“, sagt Kiefer.
Liegt bereits eine Radikalisierung vor, steigen die Fachleute von Wegweiser stärker ein. Einbezogen werden stets alle, die notwendig sind: Eltern und Geschwister, Lehrer und Sozialarbeiter, Freunde, der Fußballtrainer, der Imam. Die Sicherheitsbehörden? „Nur, wenn es um Straftaten geht“, so Kiefer.
Alternativen anbieten
Vieles davon sei klassische Sozialarbeit, die von Profis gemacht werden müsse, sagt Kiefer. „Das ist nichts für Amateure, da hast du schnell viel falsch gemacht und damit die Entwicklung verstärkt.“ Ein Beispiel: An einer Schule haben Schüler Flyer verteilt, wie sich muslimische Jungen und Mädchen zu kleiden und zu verhalten haben. Manchen ihrer MitschülerInnen passte das nicht. Irgendwann kamen die Schüler im traditionellen Gewand und mit Gebetsmützen, was die Schulleitung ihnen untersagte. Das Ergebnis: Die Schüler, die die Jungen vorher kritisiert hatten, unterstützten sie jetzt. Sie hatten das Gefühl, die Schule wende sich gegen den Islam. Die Schule erreichte also das Gegenteil von dem, was sie wollte.
„Wenn du jemanden aus der Szene rauslösen willst, musst du Angebote machen“, sagt Kiefer. „Der verliert mit einem Schlag sein bisheriges Leben und wahrscheinlich alle seine Freunde.“ Es ist eine intensive Arbeit, bei der eine Bindung entstehen muss. Der Sozialarbeiter trifft sich über Monate zwei- bis dreimal in der Woche mit dem Betroffenen, Kollegen helfen bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Ausbildungsplatz.
Das Violence Prevention Network (VPN) ist einer der großen Player in der Islamismus-Prävention, 50 feste MitarbeiterInnen, dazu freie. Thomas Mücke ist einer der beiden Geschäftsführer. Der 56-Jährige, ein hochgewachsener Mann mit kahlem Schädel, weiß, wovon er spricht. Seit 1989 arbeitet er mit radikalisierten Jugendlichen, zunächst mit Rechtsextremen, seit 2007 auch mit Islamisten.
Bei der bundesweiten Hotline für Angehörige, die seit 2012 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geschaltet ist und vom Innenministerium bezahlt wird, ist VPN eine der vier Beratungsstellen, an die die Anruferinnen und Anrufer weitervermittelt werden.
Menschen wie Marlies Peter, die in Wirklichkeit anders heißt. Sie hatte schon lange Veränderungen bei ihrem 16-jährigen Sohn beobachtet. Erst konvertierte er zum Islam, dann zog er sich von seinen Freunden zurück, immer häufiger war er auf islamistischen Websites unterwegs. Mit der Mutter gab es zunehmend Streit. Als er eines Tages verschwunden war, rief Peter bei der Hotline an. Sie fürchtete, ihr Sohn könne nach Syrien ausgereist sein. „Das ist ein ganz typischer Fall“, sagt Mücke, der die Geschichte der Peters leicht verändert erzählt, damit sie nicht identifizierbar ist.
Die Rückkehr ins normale Leben
VPN übernahm die Betreuung der Familie. Irgendwann meldete sich der Sohn aus Syrien, er war fertig, wollte zurück. Gemeinsam mit den Eltern plante VPN jeden Schritt. Der Junge floh schließlich in die Türkei, wo die Eltern ihn abholten. Jetzt arbeitet VPN daran, ihn von extremistischer Ideologie und Gewaltbereitschaft abzubringen, seine Zweifel an dem geschlossenen Weltbild der Salafisten zu verstärken. Das Ziel: die Rückkehr ins normale Leben.
Eine Stelle für die Angehörigenarbeit wird vom Bundesinnenministerium finanziert, sie soll von Frankfurt aus den ganzen Südwesten der Republik abdecken. Der Bremer Verein Kitab ist mit zwei halben Stellen für ganz ganz Norddeutschland zuständig.
Insgesamt 136 Angehörige hat VPN in diesem Jahr betreut, jede Woche kommen neue Fälle hinzu. Machbar sei das nur, sagt Mücke, weil VPN seit dem vergangenen Jahr in Hessen zugleich das „Präventionsnetzwerk gegen Salafismus“ betreibe.
Seitdem machen die Mitarbeiter alles vom Schulworkshop bis zur Deradikalisierungsarbeit mit verurteilten Syrienrückkehrern im Gefängnis. In diesem Jahr hat VPN auch das Berliner Landesprogramm übernommen, Bayern und Baden-Württemberg könnten bald folgen. Findet man bei einer so schnellen Expansion überhaupt genug geeignetes Personal? Mücke nickt. Dank der langjährigen Erfahrung sei VPN gut vernetzt. Andere sind da skeptischer. Beim Verein Ufuq etwa heißt es, es sei derzeit schwierig, geeignete BewerberInnen für eine freie Stelle zu finden.
Wie Kiefer und Nordbruch hält auch Mücke von einer nationalen Präventionsstrategie nicht viel, notwendig aber sei ein Fachaustausch auf Bundesebene. Und zwar dringend. Mücke weiß: Beim Kampf gegen den Rechtsextremismus dauerte es über zehn Jahre, bis man von einer funktionierenden Prävention sprechen konnte. Diese Zeit haben wir jetzt nicht.
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