Historiker über Erinnerungskultur: „Martin Luther als Spielfigur“
Valentin Groeber über modernes Gedenken als Ablasshandel, pathetische Identitätspolitik und Jubiläen als Legitimationsmaschinen.
taz: Herr Groebner, voriges Jahr wurde des 100 Jahre zurückliegenden Beginns des Ersten Weltkrieges gedacht – nun läuft bis zum 8. Mai alles auf den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges hinaus. Ist das Vergangenheitsaufarbeitung?
Valentin Groebner: Wohl eher eine Art Reenactment. Man spielt Gedenktag, um zu schauen, worin sich dieser Gedenktag vom letzten Mal unterscheidet, als das Kriegsende ein rundes Jubiläum ergab. Also Selbstvergewisserung: Was möchte man heute zu jenen Ereignissen erzählen?
War das schon immer so?
Der Boom des Gedenkens und patriotischen Erinnerns begann im 19. Jahrhundert, als die meisten der Nationalstaaten gegründet worden sind. Heute geht es um den Wunsch, ausgewählte Stücke dieser Vergangenheit in Geschichte zu verwandeln, die eigene Existenz mit Geschichte anzureichern und zu begründen.
Um sie aus der Vergangenheit zu bergen?
Vergangenheit ist nicht dasselbe wie Geschichte. Geschichte wird immer neu hergestellt: eine Konstruktion, um sich die eigene kollektive Herkunft zu erzählen. Vergangenheit dagegen ist das, was gewesen ist, heute weg, futsch. Die ist nur in Resten da, und meistens genügen die den ästhetischen Ansprüchen an ordentliche Monumente nicht.
Was meinen Sie damit?
Wie soll man denn eine ferne Zeitzone wieder sichtbar machen? Dafür braucht man Monumente und Embleme, die schon allen vertraut sind. Das hat in der Mitte des 19. Jahrhundert angefangen – da wurden die ersten historischen Denkmäler errichtet. Dann kam die historistische Architektur, Neu-Altes sozusagen, und die hat auch im 20. Jahrhundert nicht aufgehört, sondern sich nur verwandelt. Wer heute in einer deutschen Stadt spazieren geht, stößt in den Außenquartieren auf neoromanische Kirchen, die in den 1920er bis 1950er Jahren gebaut worden sind. Die sind nach ästhetischen Erwägungen errichtet worden, aber vor allem wollten sie sich in einer erhabenen Vergangenheit verankern – qua Neubau.
Die Person: geboren 1962 in Wien, ist Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern. In den 1980er Jahren protestierte er gegen die Startbahn-West in Frankfurt.
Das Werk: verschiedene Publikationen, zuletzt „Wissenschaftssprache digital. Die Zukunft von gestern“ (Konstanz 2014).
Wozu war das wichtig?
Ich denke, es geht um einen Wunsch: das Verschwundensein der Vergangenheit selber zum Verschwinden bringen.
Und der hält bis heute an. Noch nie gab es so viele Museen …
… aber nicht überall. Das ist direkt an den Wohlstand einer Gesellschaft gekoppelt, scheint mir. Das Lustige ist, dass in all diese Inszenierungen davon, wie es früher war, selbst ein best before eingeschrieben ist, sie künden unübersehbar von den Sehnsüchten und kollektiven Wünschen ihrer Entstehungsjahre – 2015 oder 1986 oder 1972.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Am schönsten kann man das an den Mittelalterfilmen sehen. Wenn Franco Zefirelli 1970 „Das Leben des Franziskus“ verfilmt, dann sehen wir 40 Jahre später darin linken italienischen Hippiekitsch; der Film gibt über die Wünsche der späten 1960er Jahre viel präziser Auskunft als über irgendetwas im 13. Jahrhundert. Vielen Kollegen in den Museen sind darum ihre eigenen Dauerausstellungskonzepte aus den 1980ern oder 1990ern heute eher peinlich.
Ist das Stockholmer Rathaus auch peinlich – Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, aussehend aber wie ein vormodernes Backsteinmonument?
Die wollten eben so viel Würde wie möglich für ihr Geld. Oslo ist ähnlich: ein riesiges Rathaus am Hafen, ein Trumm expressionistischer neomittelalterlicher Dreißiger-Jahre-Architektur. Als Österreicher steht man mit gemischten Gefühlen davor. Dort oder in Deutschland wäre das einfach Naziarchitektur - das ist in Norwegen aber schlicht nicht der Fall. Als der Historiker Lucien Fèvre 1928 Oslo und dieses Gebäude besucht hat, sagte er zu einem Kollegen: Weil ich nicht Antiquar bin, sondern Historiker, interessiere ich mich für die Gegenwart. Nur dass diese Gegenwart damals selber neu gebaute Vergangenheit sein wollte.
Wozu?
Norwegen war damals ein junger Staat, es wurde erst 1905 selbstständig. Die brauchten ganz viel eigene Geschichte, Frisches von früher sozusagen. Und deswegen diese alt-neuen Monumente und Museen. Als Historiker ist für mich der Peinlichkeitsfaktor interessant: Was damals einleuchtete, berührt heute eher unangenehm. Historiker denken vielleicht zu wenig über Peinlichkeit nach, denke ich. Peinlich wird es, wenn etwas einem zu nah kommt, schlecht gealterter Glamour sozusagen.
Warum brauchen wir all die Gedenktage?
Im letzten November war ich in Berlin abends mit einem Historikerfreund unterwegs, Spezialist für die Geschichte des Nationalsozialismus. Wir sahen überall Kerzen angezündet, um an den Jahrestag der Pogrome in Deutschland 1938 zu erinnern. Offensichtlich gehen den Leuten tote Nazi-Opfer mehr ans Herz als lebendige Flüchtlinge.
Ihr Blick ist böse …
… Ich bin weder böse noch gut, sondern Historiker. Das Gedenken an den Nationalsozialismus ist Identitätspolitik und gleichzeitig Abwehr, Schutzschirm. Es lässt sich als Verschluss einsetzen, um sehr viel gegenwärtigere Geschichten als weniger wirklich wahrnehmen zu können, gerade weil die heute vor der Haustür stattfinden. Daher die moralische Verve: Nur die vertrauten Erzählungen und Bilder 1933 bis 1945, das sind „wir“.
Wäre es anders öffentlich darstellbar?
Ein direkter Vergleich zwischen Flüchtlingsschicksalen aus dem Nationalsozialismus und Flüchtlingen von heute ist weder medientauglich noch mainstreamfähig. Das muss getrennt bleiben – moralisches „Wir“-Pathos bitte nur dorthin, wo es keine Unordnung erzeugt.
Das Gedenken an das Ende des Nationalsozialismus ist doch als Datum wichtig genug, oder?
Stehen wir denn wirklich in Gefahr, das zu vergessen? Historische Jubiläen haben ziemlich viel mit Heilsgeschichte zu tun, mit kollektiven Erlösungswünschen plus Sinnangebot. Das Gedenken in runden Jahreszahlen kommt aus der Geschichte der religiösen Institutionen. Papst Bonifatius VIII. hat 1300 das heilige Jahr eingeführt – eine Art Sonderangebot für maximalen Ablass, Löschen des Sündenkontos für Pilger. „Jubiläum“ ist ein sehr alter Ausdruck für das Streichen aller Schulden.
Um welche ging es damals?
Die katholische Kirche wollte mehr Rompilger, deswegen das offizielle Jubeljahr. Zuerst sollte das nur alle 100 Jahre stattfinden, dann alle 50, dann alle 25 – es hat eben gut funktioniert. Jubiläen sind Legitimitationsmaschinen. Wer an einen historischen Jahrestag erinnert, sagt auch: Ich bin die Institution, die dafür zuständig ist. Mit der Arbeit von Historikern hat das nur insofern zu tun, als dass dann Bilanzen gezogen werden. Ich kenne in meinem eigenen Bereich eigentlich keine Bücher, die für Jubiläen geschrieben wurden, in denen etwas wirklich Neues steht. Sie sind Zusammenfassungen von dem, was man weiß. Ist ja auch schön.
Aber es ist offenbar unmöglich, sich dem zu entziehen.
Stimmt, aber als Wissenschaftler finde ich das nicht gerade interessant. Wissenschaftlich wird etwas dadurch, dass man erstens weiß, wo es herkommt, also durch die Nachprüfbarkeit, und zweitens, dass andere Leute damit weiterarbeiten können. Und drittens dadurch, dass es neu ist – dass es vorher niemand wusste. Für Gedenktage trifft das nicht zu. Der Wissenschaftsbetrieb zelebriert da eher die eigene Vorhersehbarkeit.
Was wir also zum 70. Jahrestag des Endes des Nationalsozialismus in Deutschland nun erfahren, ist nicht neu?
Wie viel Platz für Überraschendes kann denn in den kollektiven Inszenierungen von Gedenken sein? 2017 ist Luther-Jubiläum – dann wird es ähnlich sein. Ein bisschen zugespitzt formuliert: Das Verhältnis zur Vergangenheit wird über Gebetsgemeinschaften organisiert.
Könnte man sich diesen Riten entziehen?
In diesen Gedenktagen steckt eine eigenartige Beklommenheit, so eine Art Pflichtgefühl. Wenn jetzt der Zweite Weltkrieg 70 Jahre vorbei ist und es fänden keine öffentlichen Gedenkveranstaltungen statt, was würde dann passieren? Würden wir abgestraft? Von wem?
Nun, von wem?
Vom eigenen kollektiven Über-Ich, nehme ich an. Die Aufgabe des „richtigen“ Gedenkens ist schlicht unerfüllbar, deswegen wird sie andauernd eingefordert. Man wird den Zweiten Weltkrieg nie vollständig abgetrauert haben. Das institutionelle Reden darüber ist durchsetzt von oberlehrerhaften Formeln, vom moralisierenden Sprechen im Namen der Toten, das ich zum Teil bizarr finde – pfarrerhaft, selbstgerecht und von oben herab.
Ist das neu?
Teilweise schon. Bis in die 1980er Jahre war es möglich, sich mit weit zurückliegenden Ereignissen zu identifizieren. In der deutschen Alternativbewegung waren vermeintliche Vorkämpfer erstaunlich populär – von den Katharern des 12. Jahrhunderts bis zu Thomas Münzer und anderen Helden der Bauernkriege, von Hexen ganz zu schweigen. Dieses historisch-romantische Pathos – „Wir sind die Brüder (und Schwestern) der romantischen Verlierer“ – hat sich ins 20. Jahrhundert verlagert. „Wir“-Politik via Geschichte ist heute weitgehend auf den Nationalsozialismus, den Stalinismus beschränkt. Das ist Nahgeschichte, identitätspolitisch aufgeladen. Darüber darf man keine Witze machen und nur auf bestimmte Art darüber öffentlich sprechen. Alles vorher hat sich in eine pittoreske Ferngeschichte verwandelt, infantilisiert, Spielmaterial.
Ist das schlimm?
Ich finde das nicht weiter dramatisch, aber auffällig ist es schon. Die Firma Playmobil hat vor ein paar Monaten Martin Luther als Spielfigur herausgebracht. Was würde wohl passieren, wenn die das mit einer Figur aus dem Dritten Reich machen?
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