zwischen den rillen: Elegisch zähmen
Über den Sänger und Dichter Orpheus – eine Gestalt der antiken griechischen Mythologie – heißt es, er habe nicht nur Menschen, sondern auch Felsen zum Weinen gebracht. Der römische Dichter Ovid knüpfte daran an und schrieb in seinen „Metamorphosen“ davon, dass er mit seiner Stimme Wildtiere gezähmt und Bäume dazu gebracht habe, sich ihm zuzuwenden. Wie mag Ovids Musik beziehungsweise die der ihm zugrunde liegenden historischen Vorbilder geklungen haben? Eine konkrete Vorstellung davon existiert zwar nicht. Doch lässt diese Leerstelle zugleich Assoziationsraum für die Kraft der Imagination.
Hört man etwa die Musik der multidisziplinär arbeitenden japanischen Künstlerin Ichiko Aoba, beschleicht einen das Gefühl, dass ihr Sound in Dingen, Menschen und Tieren mutmaßlich ganz ähnliche Reaktionen hervorzurufen vermag. In ihrem Heimatland Japan erregte die 35-Jährige bereits mit dem Debütalbum „Kamisori Otome“ (2010) und ihrer ganz eigenen Mixtur aus Kammermusik, Folk und Ambient große Aufmerksamkeit. Spätestens mit ihrem 2020 veröffentlichten Album „Windswept Adan“ wurde Aoba dann auch einem internationalen Publikum bekannt. Seitdem kursieren zahlreiche Videos in sozialen Netzwerken, die von den traumwandlerisch-elegischen Songs Aobas unterlegt sind.
Nachdem sie vor drei Jahren den Soundtrack des Spielfilms „Amiko“ komponierte, folgt nun mit „Luminescent Creatures“ ein neues Soloalbum. Klangästhetisch orientiert die in zwischen in Tokio lebende Künstlerin sich darauf an den beiden Vorgängeralben, die sich mit ihren orchestralen, mitunter auch opulenten Arrangements bereits ein Stück weit vom reduzierten, mit klassischer Gitarre und ihrer Gesangsstimme geprägten Sound des Frühwerkes verabschiedet hatten. Bereits der Auftaktsong „Coloratura“ erinnert an Soundtracks für Animé-Filme vom Studio Ghibli. Den konkreten Inhalt des Textes, den Aoba am Anfang des Songs mit ihrem in sich ruhenden Sprechgesang vorträgt, versteht zwar nicht, wer des Japanischen nicht mächtig ist. Dennoch vermag es Aobas Stimme, lebhafte Bilder vor dem inneren Auge hervorzurufen. Spätestens, wenn sie in der Mitte des Songs zu ihrem mittlerweile ikonisch gewordenen Falsettgesang ansetzt, führt Aoba ihr Publikum in sphärische Höhen – und damit in eine Welt, in der die Elementarkräfte der Natur wie schon zu Orpheus’ Zeiten scheinbar außer Gefecht gesetzt sind.
Inspiriert wurde Ichiko Aoba im Zuge der Entstehung von „Luminescent Creatures“ allen transzendentalen Klangtendenzen zum Trotz von irdischen Territorien – etwa von den japanischen Ryūkyū-Inseln, wohin es sie im Vorfeld zur Feldforschung verschlagen hatte. Die Konfrontation mit den Kräften des Meeres habe Ehrfurcht in ihr geweckt, gab sie zu Protokoll. In klangmächtigen Stücken wie „Luciferine“ wird dies auch ästhetisch erfahrbar. Obwohl die Opulenz gelegentlich aufblitzt, hat der Sound Aobas nichts von seiner Zerbrechlichkeit eingebüßt, im Gegenteil: Der Löwenanteil ihrer neuen Songs, wie „Mazamun“, „Aurora“ und „Flag“ ist nach wie vor von einer einnehmenden Intimität geprägt.
Erst kürzlich präsentierte sie die Künstlerin in einer im Internet kursierenden Liveversion. Darin ist sie mit einer Gitarre vor den Weiten des Ozeans zu sehen. Man spürt: Die hinter ihr lauernde blaue Kraft ist enorm. Doch Aobas Musik weiß diese zu bändigen und hält ihr schließlich stand – im Video genauso wie nun auch auf voller Albumlänge. Und so wird Ichiko Aobas Popularität mit „Luminescent Creatures“ wohl noch weiter zunehmen. Luca Glenzer
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