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zukunft des nahverkehrsMARCO FAJARDO über das wunderbare Verkehrswesen in Berlin – im Vergleich zu Santiago de Chile

Wie bewegen sich fünf Millionen Menschen?

„Fahrt alle Taxi!“ war der Titel eines Kommentars von Andreas Knie, Techniksoziologe an der TU Berlin, an dieser Stelle anlässlich des 100. Jubiläums der Berliner U-Bahn im Februar. Zahlreiche Experten haben sich seitdem – jeden Samstag in dieser Kolumne – Gedanken zum ÖPNV gemacht. Vorige Woche war es Jörn Flaig mit einem Plädoyer für mehr Perfektion im Freizeitverkehr.

Hoch lebe die BVG! Wieso jemand in Berlin überhaupt ein Auto hat, kann ich nicht verstehen. Warum sollte man sich am Lenkrad im Stau abquälen, wenn die Stadt über ein solch wunderbares Verkehrssystem verfügt? Die meisten Deutschen meckern über den öffentlichen Transport. Entweder weil sie ihn gar nicht benutzen, oder weil sie einfach nicht wissen, wie es in anderen Ländern zugeht. Ich kann von Santiago de Chile erzählen, wo ich lebe.

Die U-Bahn ist sauber und sicher – hat aber nur drei Linien und wird daher nur von 10 Prozent der Bevölkerung benutzt. Eine S-Bahn gab es nie, die Straßenbahn wurde vor mehr als 50 Jahren abgeschafft. Wie bewegt sich also der Rest der 5 Millionen Menschen in der chilenischen Hauptstadt? Mit Bussen, „micros“ genannt. Das sind keineswegs umwelt-, geschweige denn menschenfreundliche Fahrzeuge, und eine Fahrt wird darin schnell zur Qual. Unzählige private Unternehmer haben eins, zwei oder dutzende dieser Kleintransporter aller Baureihen und -jahre. Die Micros schicken täglich Tonnen von Staub und CO2 in die Luft – Santiago ist nach Mexico-Stadt die schmutzigste Hauptstadt Lateinamerikas.

Es gibt weder Haltestellen wie in Berlin, noch gibt es Fahrpläne. Nach 23 Uhr bleiben ganze Stadtteile unerreichbar, denn es gibt keine Nachtbusse. Die Fahrer fahren wie die Wilden, immer mit offenen Türen und lauter Musik. Natürlich können weder Rollstühle noch Kinderwagen mitgenommen werden. Täglich rasen 10.000 Busse durch die Stadt, deren Fahrer keine festen Löhne haben. Sie werden pro Passagier bezahlt. Das führt zu den grässlichsten Wettbewerben, da meistens mehrere Unternehmen dieselben Linien befahren. Für eine Strecke wie die von Postdam zur Friedrichstraße braucht man in Santiago dann schon mal drei Stunden. Dennoch müssen viele Menschen täglich quer durch die Stadt, und zwar in den Micros stehend. Der Tarif pro Fahrt beträgt umgerechnet 50 Cent – bei 150 Dollar Mindestlohn. Es gibt keine verbilligten Tages-, Wochenend- oder Monatskarten, jede Fahrt muss einzeln bezahlt werden. Zwar kommen Schüler und Studenten noch billig davon: Sie zahlen nur ein Drittel vom Preis, dafür aber werden sie von den Fahrern misshandelt und angepöbelt – sie nehmen eben besser zahlenden Passagieren den Platz weg. Doch die Chauffeure kann man für all dies kaum verurteilen. Sie verdienen wenig, arbeiten zwischen 14 und 16 Stunden täglich und können oft nicht einmal auf die Toilette, wenn sie müssen. Viele nehmen daher Alkohol und Drogen, um über den Tag zu kommen. Und gehen spätestens mit Anfang 50 in den Ruhestand. Ihr Dank: Ein kaputtes Nervensystem. Den Politikern ist das aber im Grunde egal. Sie fahren ja Auto.

Marco Fajardo arbeitet für die Santiagoer Zeitung La Nación und war kürzlich Gastredakteur bei der taz.

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