zoologie der sportlerarten: PROF. HIRSCH-WURZ über den Assistenztrainer
Am Rande der Weißglut
Dank der Schriftstellerin Anne Rice wissen wir, dass die grüblerischsten Wesen auf Erden keineswegs die Philosophen sind, sondern die Vampire. Den langzahnigen Finsterlingen gleich kommt höchstens noch der Homo hiwicus. Auch der schlägt sich unentwegt die Nächte um die Ohren und zermartet sich das Hirn. Er sinnt über trainingsmethodische Raffinessen, zeichnet waghalsige Diagramme von Laufwegen und Ballflugbahnen, entwirft oder verwirft ganze taktische Systeme und verflucht am Ende das unheilvolle Schicksal, das ihn zum Assistenztrainer gemacht hat statt zum Cheftrainer oder wenigstens Vampir.
Sein Boss schläft sich derweil gemütlich die Frustrationen von der Seele, den Rausch aus der Kehle oder den Schnee von gestern aus der Nase. Wenn er am nächsten Morgen munter und ausgeruht seinem graugesichtigen und triefäugigen Homo hiwicus über den Weg läuft, haut er ihm auf die Schulter, sodass die Hälfte der ausgebrüteten Theorien gleich wieder aus den Gehirnzellen hüpft, und wischt die eilfertig vorgebrachten Erkenntnisse der letzten Nacht mit einem barschen „Quatsch, die Kerle sollen rennen“ vom Tisch. Wenn er ein altmodischer Cheftrainer ist.
Ist er ein neumodischer Cheftrainer, greift er die wissenschaftlichen Geistesprodukte seines Assistenten begeistert auf und gibt sie an die Spieler weiter, die aber nur Pustekuchen verstehen. Deshalb verbringt der Homo hiwicus das nächste Match am Rande der Weißglut, weil der Mittelstürmer ständig 33 Zentimeter vom vorgeschriebenen Laufweg abweicht, der Abwehrchef dafür den Ball drei Zehntelsekunden zu lange hält und die Partie deshalb 0:4 verloren geht.
Nur in ganz seltenen Fällen gehen dem Homo hiwicus alle Wünsche in Erfüllung, zum Beispiel wenn er Tex Winter heißt, Assistent des Basketballtrainers Phil Jackson bei den Chicago Bulls ist und die hochkomplizierte Triangle-Offense erfunden hat. Dann wird er sechsmal NBA-Champion und weithin berühmt. Dumm nur, dass nicht jeder Homo hiwicus einen Michael Jordan in seinem Dreieck vorfindet.
Wissenschaftliche Mitarbeit:
MATTI LIESKE
Fotohinweis:Holger Hirsch-Wurz, 48, ist Professor für Humanzoologie am Institut für Bewegungsexzentrik in Göttingen.
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