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yeah yeah yeahWandernde Enthusiasten (3): Am Computer

Schreibende Luft

Einmal, nachdem Goethe sehr ausdauernd gezecht hatte, schrieb er in sein Notizbuch: „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.“ Das war aber nur die halbe Wahrheit, denn was Goethe von ebendieser Geschichte auch hatte, waren hämmernde Kopfschmerzen. Die blieben fein unerwähnt. „Das Fieseste, was wir von der Geschichte haben, ist der Hangover, den sie erzeugt“, schien dem Dichter kein weiser Nachsatz, was wiederum selbst dumm ist, denn dass alles mindestens zwei Seiten hat und mithin eine Frage der Perspektive ist, weiß heute jedes Kind.

Nehmen wir diese Sommertage: Hat es je schönere gegeben? Dienstag 29 Grad Celsius, Mittwoch 32, Freitag 35, Sonntag 40 oder umgekehrt, jedenfalls addiert eine anständige Summe. Sämtliche Stühle, die in Berlin verfügbar sind, stehen auf den Bürgersteigen, Apfelschorle und Bier fließen reichlich, in der Luft stets ein Hauch von gegrillten Lammkoteletts. In den Parks dösen friedfertige Menschen, auf den Spielplätzen in Prenzlauer Berg ziehen sich selbst die Mamis und Papis aus. Und erst das Umland! Alles so grün! Das Wasser so blau! Auf dem Wannsee kann man in Tretbooten dümpeln und im Heiligensee mit ausgelassenen Parkwächtern schwimmen. Ein Wicht, wer hier nicht enthusiastisch wird!

Na ja, und dann das: Eine Autorin, die missvergnügt auf ihren Computer starrt. Verdammt, eine Kolumne über den Enthusiasmus zu schreiben. Sich selbst als Wicht entlarvend. Auf der Hauswand gegenüber steht in Großbuchstaben SCHAUT NICHT WEG!, aber niemand kümmert ihr Schicksal, weil alle eifrig Bier trinken. Oder dösen. Oder im Wannsee paddeln. Der einzig Verständige in diesem akuten Perspektivdilemma ist ein Durchreisender namens Hamlet, den Peter Brook nach Berlin geschickt hat. Von Dienstag bis Samstag hat der Däne es hier klar gesagt: „Dieser herrliche Baldachin, die Luft; dies wackre umwölbende Firmament, dies majestätische Dach mit goldenem Feuer ausgelegt – kommt es mir doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten.“ So sieht es aus, von Kopenhagen bis Berlin. Schwitzende Ignoranten überall.

In Hamburg, wo ich früher wohnte, musste ich ebenfalls täglich dasselbe Graffito ansehen. Auf einer weißen Hauswand neben dem Radweg zur taz-Redaktion stand „7 Leben“. Von der Max-Brauer-Allee bis zur Chemnitzstraße konnte ich mir dann ausmalen, was ich noch alles hätte sein können: Pilotin vielleicht, Prinzessin von Dänemark, ein ausgeglichener Mensch, Eskimo oder eine Katze, natürlich. Drei Häuser weiter stand in derselben Schrift „Daseinsverfehlung“. Das gibt zu denken, so tagein, tagaus. Auch noch Jahre später, wenn man am Sonntag bei 40 Grad auf einen Monitor starrt.

„Daseinsverfehlung“ erinnert aber auch an einen anderen, ganz großartigen Schriftzug direkt hinter dem Hamburger Hauptbahnhof. Auf einer efeubewachsenen Mauer über den verschlungenem Gleisen steht dort in schlichten gelben Buchstaben „die eigene Geschichte“. Sonst nichts. Nachts leuchten sie. Es ist vielleicht schwer nachzuvollziehen, wenn man sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat, aber Reisende Richtung Altona kann die Sentenz in stille Euphorie versetzen. Da wird ein Film der eigenen ein bis sieben Leben abgespult, die unter Umständen gerade parallel und gar nicht großartig verlaufen – aber gleichzeitig haben diese drei Worte etwas existenziell Rückversicherndes: Du HAST eine eigene Geschichte – DU bist.

Nicht alle Menschen müssen für diese Erkenntnis mit dem Zug nach Altona fahren. Im Schloss Sanssouci hüpfte letzte Woche ein Mädchen vor mir, das ihr Leben bereits mit fünf fest in den eigenen Händen hatte. „Ich mag Ponys sehr gerne“, ließ sie ihre Eltern wissen, „deswegen habe ich mir ein paar Luftponys gekauft.“ Das hätte dem Philosophenkönig, der dort einst sommers residierte, sicher gefallen. Mich hat es auch überzeugt. Die 5,80 Mark, die ich am Kiosk für ein Fläschchen Wasser löhnen sollte, habe ich einfach mit Luftgeld gezahlt. Und mit dieser Kolumne ging’s letztlich nicht anders: Ich habe meinen Luftcomputer auf Autoproduktion gestellt und mich in mein Luftauto gesetzt, um auf einem Luftsegelboot auf dem Scharmützelsee Luftcocktails zu trinken. Ein sehr schöner, auch sehr luftiger Tag. CHRISTIANE KÜHL

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