wiedergelesen: Mit Herbert List durch das Hamburg der 1920er
Paul Schoner ist die Hauptfigur in Stephan Spenders Roman „Der Tempel“ – Spenders Alter Ego. Er bildet mit William Bradshaw (alias W. H. Auden) und Simon Wilmot (alias Christopher Isherwood) eine Gruppe junger englischer Schriftsteller und queerer Freunde, immer auf der Suche nach einer gelungenen Gedichtzeile – und einem geneigten Liebhaber.
Paul reist nach Hamburg zu Ernst Stockmann, dem ehemaligen Oxforder Kommilitonen. In dessen elterlicher Villa erlebt er die angestrengte Kultiviertheit, aber auch die einschüchternden Rituale einer hanseatischen Kaufmanns-Dynastie. Nachts durchstreifen Paul und Ernst St. Pauli: „Deutschland ist der EINZIGE ORT für Sex. England TAUGT NICHTS.“
Die faszinierendste Figur inmitten der Männergeschichten im „Tempel“ ist der Fotograf Joachim Lenz alias Herbert List: „Mein Vater importiert Kaffee aus Brasilien und ich soll lernen, die Firma eines Tages zu leiten. Aber ich habe bestimmt nicht vor, jemals Kaffeehändler zu werden.“ Joachims Atelier bietet Freiraum für Gespräche über Kunst, den eigenen Lebensentwurf, Zukunftshoffnungen, Schwulsein. Von hier schwärmen die jungen Männer aus, treffen Lothar, Heinrich, Wilhelm, alles Jungs vom Hafen.
Dass Berlin gegen Hamburg chancenlos ist, versteht sich: „Absolut nichts auf dieser Welt kann sich vergleichen mit dem erregenden Reiz eines großen Hafens. Der Hafen, der die reine voll beladenen Schiffe ausspeit und einsaugt. Wie eine große tutende, heulende, dampfende Möse, in die die fremdsprachigen Spermatozoen der ganzen Welt EINSCHIESSEN; und ein Arschloch, das All deinen Müll in den Ozean ausstößt.“
„Der Tempel“ fängt die Zeit Ende der 1920er-Jahre ein. Der Erste Weltkrieg scheint lange vorbei. Man will leben und genießen, erst recht nach der Hyperinflation, die die bürgerlichen Grundsicherungen erschüttert hatte. Doch schon bei Pauls zweitem Hamburg-Besuch 1932 zeigt sich: Das politische Klima kippt. Joachim und Ernst erleiden antisemitische Übergriffe, der Nationalsozialismus polarisiert auch die queere Szene.
„Der Tempel“ ist eine ideale Begleitlektüre zu den List-Ausstellungen in Hamburg, fängt das Fluidum der Bohème der Zwischenkriegsjahre ein, dem Beginn von Lists Künstlerschaft. List entstammt, so sein Biograph Emanuel Eckardt, „dem soliden Milieu von Soll und Haben, in dem es immer wieder mal vorkommt, dass aus Krämern Künstler werden.“
Übrigens erzählt der „Tempel“ zwei Geschichten: Die Handlung des Romans und die vom wundersamen Wiederfinden des Manuskripts. Spender hatte es 1928 verfasst, aber später verpfändet – erst 1985 erfuhr er, dass es erhalten blieb. Er liest nun den eigenen Text mit neuem Blick, mischt ihn ab mit überlagernden Erinnerungen und Passagen aus seiner Autobiographie, so dass er erstmals 1988 erscheint. Frauke Hamann
Stephen Spender: „Der Tempel. Roman“, übersetzt aus dem Englischen von Sylvia List, Albino Verlag, 304 S., 22 Euro
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