wie man demokrat wird von WIGLAF DROSTE:
Als Demokrat wird man nicht geboren, zum Demokraten muss man sich erziehen. Es ist eine Frage des Willens. Wer freiheitsliebend ist, dem erscheint Demokratie als die Mager- und Mangelversion von Freiheit, als Freiheit mit Leitplanke und Stützstrumpf quasi. Das sorgt nicht gerade für Begeisterung.
Die Freiheit, in der ich aufwuchs, hieß freiheitlich-demokratische Grundordnung. Meist wurde sie FDGO genannt; auf ihrem Boden musste man stehen, sonst war es nichts. Die FDGO war wie „Yps mit Gimmick“: die Demokratie mit dem finalen Rettungsschuss. 1979 schossen in Nürnberg drei Polizisten die RAF-Frau Elisabeth van Dyck in den Rücken. Aus Western weiß man, dass Schüsse von hinten ein Indiz für einen fairen Kampf sind. Man konnte von einem demokratischen Putativmord sprechen. Dazu musste man ein erfahrener Demokrat sein, mit allen Wassern gewaschen, ein alter Hase der Demokratie.
Ich war ein junger Hüpfer mit einem undemokratischen Hang zur Wahrheitsliebe. Wer ein guter Demokrat sein will, darf es mit der Wahrheit nicht immer allzu genau nehmen. Sonst kriegt er Zustände, und die führen ihn ganz schnell weg vom Pfad der Demokratie. Als Zivildienstleistender besuchte ich ein öffentliches Rekrutengelöbnis im Bielefelder Stadion Russheide. Ich trug einen Papierhelm, ein Holzschwert und ein Plakat mit der Aufschrift „Prima, Jungs, weiter so.“ Bei der Vereidigung applaudierte ich an der falschen Stelle und rief „Bravo! Bravo!“ Vier anwesende Feldjäger fanden das nicht komisch und führten mich ab. Andere, demokratischere Besucher klatschten ihnen Beifall. Draußen vor dem Stadion, ohne Zeugen, machten mich die Feldjäger rund. Sie besorgten es mir richtig. Als sie fertig waren, wischte ich mir das Blut vom Gesicht, hinkte heimwärts und lernte: Vier gegen einen ist nicht feige. Vier gegen einen ist Demokratie.
Es hat einige solcher Nachhilfestunden gebraucht. Heute bin ich ein gelassener Demokrat. Wenn Merkel oinkt, der deutsche Staat habe in den Siebzigerjahren nichts falsch gemacht, bleibe ich kühl. Woher soll sie wissen, wovon sie redet? Merkel kommt aus Dunkeldeutschland. Da gab es keine Demokratie. Merkel weiß nur, was Mitlaufen ist; den langen Lauf zu sich selbst hat sie noch vor sich. Als Demokrat muss man auch Mitleid haben und Verständnis mit denen, die es schwerer haben. Wenn der Ex-BDI-Agent Hans-Olaf Henkel aussteigen und Demokrat werden möchte, soll man ihm die Hand zur Hilfestellung reichen, auch wenn die Resozialisierungsprognose eher düster ist.
Vor allem muss ein Demokrat wachsam sein, auch sich selbst gegenüber. Die eigene Demokratiefähigkeit muss immer wieder kontrolliert werden. Eine Prüfung für Fortgeschrittene ist der predigtredende Bundespräsident Johannes Rau, der seine Zuhörer mit einer Attitüde beseppelt, als wären sie Kinder und er ihr Gärtner. Top-Demokraten erdulden sogar eine Stunde Rau ohne Augenverdrehen und Heimlich-bis-5.000-Zählen. Das ist so schwer, dafür gibt es das goldene Demokratieabzeichen.
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