weimar, goethe und die einheit von WIGLAF DROSTE
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Waren Sie jemals in Weimar? In Weimar wird man auf eine Weise zugegoethet, die man sich nicht vorstellen kann. Goethe ist überall, man kann ihm nicht entwischen. Von jedem Wandteller des Grauens herab schaut er einem streng in die Augen. Läuft man fort und trinkt, dem Kitsch mit Goethe entfliehend, irgendwo ein Tässchen Kaffee, ist er schon wieder da: Vom Grund der Tasse sieht Goethe dich an. Und ist er tatsächlich einmal für ein paar Sekunden nicht anwesend, kommt stattdessen garantiert Freund Schiller angeschissen. Es ist zum Davonlaufen.

Genau das tat ich auch. Ich sprang in den Zug und schrieb, um mich quasi wieder selbst zu entgoethen, ein Gedicht. „Darmalarm im Hause Goethe“ heißt es und geht so: Den Bauch / Voll Lauch: / Knoblauch / Auch anderer Lauch. // War im Auflauf, der Lauch – / Rasch auf- und rasch eingeschaufelt: / Riesiger Haufen Lauch! / Und lecker auch. / Jetzt aber Au: Bauchweh im Wehbauch. // Was kraucht da im Schlauchbauch? / Faucht laut im Bauchschlauch? / Au! Aua! Au! – Hör auf! / Große Trommel – Nein, drück da nicht drauf! / Zu spät: fahler, fauliger Rauch. // Nun spürst du ihn auch / Diesen Hauch. / Spürst ihn auch du? / Gretchen? Spürst du ihn? Puuuh … – / Unter allen Kissen ist Ruh.

So verging die Zeit im Bord-Bistro etwas schneller. Ich wurde hungrig und prüfte das Angebot; über den feilgehaltenen Abfallprodukten stand zu lesen: „Speien und Getränke“. Endlich sagen sie die Wahrheit bei der Deutschen Bahn AG, dachte ich ungläubig und sah nochmals hin. Nein, das taten sie nicht: „Speisen und Getränke“ behaupteten sie. Es muss aber „Speien und Getränke“ heißen, alles andere ist ein Druckfehler oder eine Lüge.

Mein Blick fiel auf eine Stofftasche. In Schwarz, Rot und Gelb war sie mit schwarzrotgelb auch Gemeintem bedruckt: „Einheit gemeinsam gestalten“, ermahnte mich die Tasche. Das klang nach Pastorenpietz mit Anfassen. Die müffeligen Worte fanden ihre analog debile grafische Umsetzung in einem roten Herzchen mit klaffendem Riss. So konnte auch der Analphabet sehen: Das deutsche Herz, es blutet, es leidet. Nur – woran? Und wer könnte ihm helfen? Der Kardiologe, der einzig zuständig wäre?

Am deutschen Herzchenstoffbeutel hing ein Mann Ende 40. Er trug einen Schnäuzer und eine schwarze Lederweste. Eins der ehernen Gesetze der Welt lautet: Lederweste geht gar nicht, Lederweste ist zu arg. Hier aber bildeten Lederweste, Schnäuzer, Mann und Tasche ein Ganzes, hier wurde nicht nur weisungsgemäß die Einheit gemeinsam gestaltet – nein, hier wurde DIE INNERE EINHEIT ästhetisch vollzogen! Andere mögen ihre Vorstellung, ihren Begriff von der Einheit haben, ihren Wunsch- wie Albtraum. Ich aber habe sie wirklich gesehen: Die deutsche Einheit. Der Anblick reicht für ein ganzes Leben.

Indem sie allerlei Speien und Getränke mit mittelscharfem Senf hinabwürgte und dann, laut und sauer aufstoßend, aus dem Zug stieg, ließ die Einheit mich allein, und augenblicklich fühlte ich mich nicht mehr einsam.