wahlkampf & familie: Schröders heimlicher Helfer
Stellen wir uns einen freundlichen, liberalen Wähler vor. Er hat 1998 für Rot oder Grün votiert und ist mit der Regierung halbwegs zufrieden. Die Ökosteuer findet er gut, den Atomausstieg gut gemeint, den KSK-Einsatz in Afghanistan unerfreulich. Aber auch dieser rot-grüne Idealwähler will wissen, warum Schröder/Fischer weiter regieren wollen. Und da wird es kompliziert.
Kommentarvon STEFAN REINECKE
Die großen Bürgerrechtsreformen, von Homoehe bis Zuwanderung, sind mehr oder weniger über die Bühne gebracht worden. Nun steht anderes auf dem Spielplan: die Gesundheitspolitik zum Beispiel. Aber die Aussicht auf höhere Beiträge und bankrotte Krankenkassen wird auch das geduldigste Publikum nicht zu den Wahlurnen treiben.
Rot-Grün hat daher rechtzeitig die Familie entdeckt. Wir brauchen mehr Kitas, mehr Ganztagsschulen, damit mehr Frauen Kinder und Job vereinbaren können. Das ist eine grundvernünftige Idee, die Notwendiges mit Wünschenswertem – mehr Gleichberechtigung – verbindet. Neu ist das nicht. Neu ist, dass diese Idee nicht mehr in ungelesenen Tischvorlagen der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen zu finden ist, sondern in Schröders Regierungserklärung.
Allerdings hat die Familienpolitik für Rot-Grün einen echten Nachteil. Sie ist ein Konsensthema, eigentlich ungeeignet für ideologische Aufwallungen. Und vor Wahlen sind sowieso alle ganz doll für Familie. Sogar die FDP hat, nach einem Blick in die Wahlkampfideen der Konkurrenz, ihr Herz für Kinder entdeckt. Doch ohne ein bisschen Konflikt ist kein Thema wahlkampftauglich. Wenn alle sowieso dafür sind, versteht kein Wähler, worum es geht.
Aus dieser unschönen Lage – prima Thema, aber leider kein Gegner – hat Friedrich Merz Rot-Grün gestern befreit. Merz findet, dass „eine beliebige Verbindung zweier Menschen auf Zeit“ keine anständigen Eltern macht. Kompliziert gesagt, aber eindeutig gemeint: Nur wer ordnungsgemäß verheiratet ist, erfüllt die Norm, alle anderen spielen in der zweiten Liga. Klingt nach Kinder, Küche, Kirche.
Die deutsche Gesellschaft ist viel, viel weiter. Heirat ist schon sehr lange keine Frage der Moral mehr. Was Merz sagt, ist ziemlich reaktionär – und vor allem weltfremd. Das weiß jeder, der schon mal „Lindenstraße“ geguckt hat. Doch in der Union scheinen sich noch immer manche nach den 50er-Jahren zurückzusehnen. Viele rot-grüne Sympathisanten haben seit gestern wieder einen Grund, wählen zu gehen.
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