piwik no script img

vorlesungskritik Prof. Schreiter-Nixdorf erklärt das romantische LeidenJe dichter, desto ist er

Es knarrt im Gestühl des Vorlesungssaales der Humboldt-Universität, wenn man sich auch nur unmerklich räkelt. Bewegt man allein die Augenlider, knarrt es nicht. Durch tiefe Fensterhöhlen schimmern grünspanige Dächer friderizianischer Bauten, leise rauscht der Verkehr. Von einem Wandvorsprung aus blickt ein wenig herablassend die Marmorbüste des Mathematikers Weierstraß auf Prof. Schreiter-Nixdorf, der zum Thema Klassik und Romantik liest.

„Je größer der Dichter, desto philosophischer ist er.“ Mit diesem Diktum des Romantikers Novalis hat der selbst in der Philosophie beheimatete Dozent seine Vorlesung begonnen, dieser Satz aus dem Skript schimmert auch per Overheadprojektor vergrößert an der Wand. Doch schnell wird klar: Groß war vor allem die Leidensfähigkeit der Romantiker. Ob Friedrich Wilhelm Schlegels Selbstmordgedanken, Hölderlins Weltschmerz oder Tiecks Depressionen: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren die jungen Künstler alle ziemlich down. Kleist, der sich unweit des Strandbades Wannsee ertränkte, schrieb in einem Abschiedsbrief: „Mir ist auf Erden nicht mehr zu helfen …“

Solcherlei Depressionen, so Schreiter-Nixdorf, seien aber nicht einfach nur diffuse Stimmungslagen gewesen, sondern Symptome des Leidens an den politischen Zuständen. Doch die Romantiker waren nicht nur eine Null-Bock- und No-Future-Generation, sondern brauchten auch immer den Thrill. Ihre zahllosen Friedhofs- und Klagepoeme, Rührdramen und Schauerromane seien ein Indiz dafür, inwieweit der Mix aus Lust und Unlust, die Lust am Leiden und Mitleiden im 18. Jahrhundert eine neue Bedeutung gewonnen hätten.

Wahrscheinlich hätten die Freunde schauerlicher Orte auch an der ungepflegten Langeweile Spaß gehabt, die sich im heruntergekommenen Hörsaal an der Straße Unter den Linden ausbreitet. Der Putz bröckelt, die Pulte sind von Graffitis und Einritzungen des abschweifenden Bewusstseins übersät: Es lebe der FC Rostock! Hansa-Pils for ever!

Doch lieferte den Romantikern ausgerechnet die an solch unromantischen Orten betriebene graue Theorie Denkanstöße, die eine Vermittlung zwischen der schnöden Wirklichkeit und der bunten Fantasie versprachen. Als der Dichter Novalis die Werke der wichtigsten zeitgenössischen Philosophen durchforstete, stieß er auf Fichtes idealistische Weltanschauung. Der Jenaer Gelehrte hatte die produktive Einbildungskraft des Menschen zum obersten philosophischen Prinzip erhoben. Euphorisch erklärte nun Novalis: Wenn man das „Fichtisieren“ erst artistisch betreiben würde, könnten ganz neue, magische Formen von Kunstwerken entstehen.

Der Poesie schrieb Novalis die Möglichkeit zu, die Wahrnehmungskraft des Menschen zu erweitern, ja, ihm ein Organ für außersinnliche Wahrnehmungen zu vermitteln. Kein Wunder, dass auch die mittelalterlichen Mystiker Jakob Böhme und Paracelsus bald Novalis’ Neugier wecken sollten – doch Schreiter-Nixdorf hat keinesfalls vor, heute die X-Akten der deutschen Literaturgeschichte zu öffnen. Konzentriert und sachlich wie bisher setzt er vom Stehpult aus furnierter Spanplatte herab zum Schlussakkord an: Die Romantik könne man schlicht als Versuch verstehen, den aufklärerischen Rationalismus des 18. Jahrhunderts zu kompensieren. Eine irrationalistische Bewegung sei es aber keinesfalls gewesen, sondern der Versuch, Wissenschaft und Kunst durch eine Synthese der Gegensätze zu verbinden.

Das Licht des Overheadprojektors erlischt, die Vorlesung ist zu Ende. Scheinbar zufrieden blickt die Weierstraß-Büste den Zuhörern nach, die den Saal verlassen. Nur die mathematischen Formeln vom Vortag, mit denen die Wandtafel noch über und über bedeckt ist, bleiben zurück.

ANSGAR WARNER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen