vorlesungskritik Annamaria Rucktäschels „Komplexe Visionen“: Brecht boxte und Joschka läuft
Die komplexe Vision hat sich einen netten Ort geschaffen. In der Ecke steht eine Jazzcombo. Die spielt „The shadow of your smile“, während die anderen sitzen und auf Prof. Annamaria Rucktäschels Ringvorlesung „Komplexe Visionen – Szenarien für die globalisierte Weltgesellschaft“ warten. Dabei hat die Vorlesung, oder besser „das Spektakel“ möglicherweise schon begonnen: Warten die, die dort auf den Stühlen sitzen, eigentlich wirklich? Oder loungen sie bereits?
Komplex, mag man sich denken und noch einen Blick auf den Flyer werfen, der in knappen, polarisierenden Wortpoemen die Themen der folgenden Vorlesungen ankündigt. „Heimat: Ortlos – Optionen oder DorfIllusionen“ oder „Lebensformen: CyberLiebe oder WeidenWiege“. Zitierfähige catchy Bröckchen, die vor den Füßen herumliegen wie hübsche Muscheln. Das Licht geht aus und nur mehr der auf den Bühnenhintergrund projizierte Bildschirm schimmert, ein Guide in Violett, der das Geschehen medial verdoppelt. Wer zwischendurch wegsinkt, wird hier Halt finden. Oben sind die Themen aufgelistet. Wir sind ganz am Anfang. Wir sind bei „Begrüßung“.
Ein Spot richtet sich auf die Rednerin, und die Erscheinung mit den dunkelroten Haaren und dem sehr dunkel gemalten Mund spielt jetzt, wo das harte Licht ihr von fern ins Gesicht strahlt, ins Dämonische. Weiße Zähne blinken. Im Hintergrund agiert ihr Schatten. „Begrüßung“ also, zunächst „Prof. Lothar Romain, Präsident der UdK“, wie auch die Projektion wissen lässt. „Ein Diskurs als Kunst- und Bildungserlebnis“. Dann spricht der Vizepräsident – von seiner Faszination: „So sind Sie mir als eine Ritterin präsent geworden. Eine Frau auf der Höhe ihrer Zeit.“ Wie angenehm für Sprechende, dass schöne Worte immer ein bisschen auf sie selbst zurückfallen. Auch die Zeilen Friederike Mayröckers: „Ein Text, den ich bei mir trage zur Zeit.“ Ist das ein Teil der Performance: der Auftritt der Repräsentanten? Oder ein Teil der Vision?
Dann: Prof. Rucktäschel am Pult & der Einstieg in die Themen, unbedingt Plural. „Die Vermischung der Weltkulturen – nur ein MegaMischMasch?“ Stichwortkaskaden. Metropole & Marshall McLuhan: „The medium is the message“ & multiple Identität: „kulturell multiverbal“ & die Postmoderne als Abschied von puristischen Vorstellungen, von Paul Feyerabend „griffig subsumiert“: „Anything goes.“ Time for a song. „Bücher und ihre Zukünfte“: „Möchtegerndichter“ stellen ihre Publikationen ins Netz & die „Hausfrau aus Neu-Haching ihre erotischen Phantasien“ & als einer der ersten Autoren Rainald Goetz: „Abfall für alle“ & Netzlyrik. Weiter. Sport. „Ligua franca der universellen Kultur“ & Schweiß als Erfolgsaccessoire & Intellektuelle und „körperlicher Habitus“: „Brecht boxte und Joschka läuft.“ Weiter.
Global Pop. Religionssubstitut, neue Form der Volksfrömmigkeit, global verständlich, emotional massentauglich. Die Schauspielstudenten mit „Kunst: Ein Stück in sieben Akten. Schön, knapp, abgepackt“. Selbstreferenz? Benjamin, das Kunstwerk im Zeitalter darf nicht fehlen, während uns nun, ja uns die Sicherkeit abhanden komme, dass wir noch lebendig seien: „Der Mensch des Informationszeitalters wird sich selbst fremd.“
Weiter zum „Lolita-Syndrom in der Klassik“: „irisierender Mythenmix aus Geigen-Girlie und Jeune Fille Fatale“. Doch nicht nur Lolitas können geigen. Deshalb: Bartók. Letzter Punkt: Danke. Fenster werden geöffnet, Licht & Luft für den Vortragssaal. Leicht benommen mag man dann über die Treppe entschweben, „bei sich“ noch die Zeilen des mittels „Günters Gels Genialem Gedicht Generator“ erzeugten Verses: „Welch einsames Zieren!/ Im ewigen Raum/ Ja, Szenarien penetrieren/ ist traurig/ und so plumpscheußlich.“ KATRIN KRUSE
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