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vorlesungskritik Aleida Assman sprach an der HU über die ErinnerungIm Brausepulver

Aleida Assmann, im Rahmen der Mosse-Lectures zu Gast an der Humboldt-Universität, ist das fast schon ein wenig peinlich: Ihre intensive Beschäftigung mit dem Thema Erinnerung und Gedächtnis biete schon den Eindruck einer „gewissen Monomanie“. Doch gerade deswegen sind offenbar die Zuschauer so ausgesprochen zahlreich erschienen. Die Konstanzer Anglistin und Ägyptologin ist Star der bundesdeutschen Erinnerungsforschung.

„Ich erinnere mich, oder ich werde erinnert“, zitiert die belesene Mittfünfzigerin gleich zu Beginn aus einer Rede von Günter Grass. Das Geräusch von leise anschlagenden Ostseewellen berge für den gebürtigen Danziger unwillkürlich Reminiszenzen an die Jugendzeit: Freibad, prickelndes Brausepulver, erste Liebe. Erinnern, so betone Grass, sei eine unverzichtbare Disziplin für den Schriftsteller. Misstrauen hege er jedoch gegen das kollektive Gedächtnis. Nicht umsonst spreche man im verdrängungsgeübten Nachkriegsdeutschland von „Erinnerungsarbeit“.

Mit dieser Kritik steht Grass nicht allein. Der Historiker Reinhard Koselleck, so Assmann, habe gar behauptet: Es gebe gar kein kollektives Gedächtnis. Auch die Erinnerungsforscherin vom anderen Ende der Republik teilt die Skepsis gegenüber diesem Begriff. Als Ersatz hat Assmann gleich mehrere Begriffe in die Gedächtnisdebatte eingebracht, die sie nun dem immer noch in den Saal nachplätschernden Publikum ohne viel Brimborium präsentiert. Als eine Art „Generationengedächtnis“ umfasse das soziale Gedächtnis historische Schlüsselerfahrungen und präge die Identität der verschiedenen Altersgruppen.

Weniger selbstverständlich als diese Form des Erinnerns sei hingegen das politische Gedächtnis. Erst durch dieses „Gedächtnis von oben“ schüfen sich Nationalstaaten ihre Identität. Mit durchaus unterschiedlicher Perspektive: So erinnerten zum Beispiel Metrostationen in Paris ausschließlich an die siegreichen Schlachten Napoleons, eine Waterloo-Station gebe es aber nicht ohne Grund nur in der Londoner U-Bahn. Doch mittlerweile könne man, so Assmann, eine Art Globalisierung der historischen Erinnerung beobachten. Viele europäische Nationen hätten gelernt, auch die traumatischen Erfahrungen ihrer Nachbarvölker in die eigene Erinnerungskultur einzubauen.

Ein gutes Beispiel sei der Ort, an dem Grass seine eingangs zitierte Rede über das Erinnern gehalten habe: das litauische Vilnius. Mit ihren jüdischen, deutschen, polnischen, litauischen und auch russischen Geschichtsanteilen sei die Stadt wie ein Palimpsest, dessen mehrfach überschriebener Text erst durch gemeinsames Erinnern wieder lesbar werde.

Das kulturelle Gedächtnis, so Assmann, sei eben der Ort latenter Erinnerungen, die willkürlich oder unwillkürlich wieder an die Oberfläche kommen könnten. Zum Beleg zitiert die Gastrednerin wiederum Grass: In seiner aktuellen Novelle „Im Krebsgang“ habe der Autor gezeigt, wie das Schicksal der deutschen Vertriebenen, das im politischen Gedächtnis lange Zeit aus ideologischen Gründen getilgt worden sei, in der Erinnerung der betroffenen Generation immer noch präsent sei. Über die Enkelgeneration könne es allerdings nun wieder an die Oberfläche gelangen. Grass passt so gut in das präsentierte Schema, dass man fast glauben möchte, der gerissene Kaschube habe in den Neunzigerjahren Aleida Assmann gelesen.

Doch vielleicht ist die Theorie der unterschiedlichen Erinnerungsformen einfach so banal, dass sie immer zutrifft. Gibt es vielleicht doch ein kollektives Gedächtnis? Nach dem Vortrag hat man jedenfalls ungeachtet aller rhetorischer Präsenz der Gastrednerin das Gefühl, eigentlich nichts Neues gehört zu haben.

ANSGAR WARNER

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