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vorlaufSprachversehrt

„Chaos der Gefühle“ (ARD, 20.15 Uhr)

„Du weißt gar nicht, wie alleine ich bin“, barmt Christian (Edgar Selge). Und als sei ihm gerade die Vergänglichkeit allen irdischen Seins bewusst geworden, starrt er seine Frau Anne (Franziska Walser) voller Verzweiflung an. Trotzdem will sich kein Mitleid einstellen. Kurz vor dieser Szene nämlich musste Anne mitansehen, wie ihr Mann seinen Kopf ebenso leidenschaftlich im Schoß einer anderen (Anna Schudt) vergraben hatte. Jetzt schmeißt sie ihn raus. Nicht ohne ihn darauf hinzuweisen, seine Tabletten einzupacken. Zwecklos – in der Nacht erleidet Christian einen Schlaganfall.

Das ist der Ausgangspunkt für ein Drama, das allerlei klinisches Wissen ausbreitet – aber keineswegs der üblichen Logik von Versehrtenfilmen folgt. Denn die Sprachlosigkeit, die sich in Folge des Schlaganfalls einstellt, ist hier nicht die Chance zur Läuterung des moralisch zwiespältigen Helden. Dies ist keine Erweckungsgeschichte im Stil von „In Sachen Henry“, wo Harrison Ford sich mit dem Verlust der Sprache vom Karrierejuristen zum Knuddelbär wandelt. Die Aphasie, die das Sprechen beeinträchtigt, nicht aber das Denken, funkioniert in „Chaos der Gefühle“ vielmehr als Kondensator, um verhärtete Positionen zu verflüssigen. Mann, Frau und Geliebte müssen sich in der angespannten Situation über ihre Gefühle klar werden. Ein tragikomischer Kraftakt ist das, denn das „Chaos der Gefühle“ gerät unter dem partiellen Sprachverlust zum Chaos der Zeichen. Einmal will Christian Zuneigung artikulieren und sagt: „Ich liebe mich.“ Ein guter Satz für jemanden, der narzisstisch um sich selbst kreist.

Regisseur Diethard Klante, der zuvor sowohl biedere Soaps als auch radikale Melodramen inszeniert hat, hält sein Werk frei von moralischen Erwägungen. Das Handeln der drei Hauptfiguren mag durch die Krankheit bestärkt werden, nicht aber grundsätzlich verändert. Und dass in der zweiten Hälfte der Sprachaspekt ein bisschen strapaziert wird, macht Edgar Selge locker wieder wett. Der Dauerversehrte des deutschen Films, der im „Polizeiruf“ einen einarmigen Polizeigriesgram mimt und unlängst in der Philo-Burleske „Suck My Dick“ ohne Penis rumlief, wütet und liebt hier an allen Behindertenklischees vorbei.

CHRISTIAN BUSS

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