über die leitplanke:
von WIGLAF DROSTE
Die wenigsten Menschen möchten wirklich frei sein. Von den wenigen, die es überhaupt wollen, schaffen es ein paar Handvoll. Der Rest will allenfalls die „Freiheit!“, die Marius Müller-Westernhagen, der Mussolini in Dünn, als Mitgegröl aus ihnen herauspresst.
„Wo geführt wird, da wird auch gefolgt“, bellte vor ein paar Jahren der FAZ-Redakteur Volker Zastrow aus seinem Blatt in die enge Welt hinein. Unangenehmer als die Affirmation, mit der er seine Weisheit ausposaunte, ist nur, dass er Recht hat: Sie lassen sich so gern leiten und führen, sie wollen nicht alleine laufen, wollen nicht verantwortlich sein für sich selbst. Und dürfen doch Kinder machen, Auto fahren, wählen. Warum eigentlich? Den Weg aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, wie Good Old Kant das nannte, haben sie nie eingeschlagen, ßu ßwierig, ßu ßeiße. Und, um einen schönen Pidgin-Komparativ in der deutschen Sprachfamilie willkommen zu heißen: jetzt noch scheiser.
Vom „Denken ohne Geländer“ träumte Hannah Arendt, aber das wollen sie nicht. Sie brauchen ihre Leitplanken, sonst finden sie nicht nach Hause, ins Dunkle, da müssen sie hin. Sie können nichts als gehorchen, und in ihren Tagträumen herrschen sie dann, unbarmherzig wie Kinder. Sie wollen nicht frei sein, also sollen alle anderen auch nicht dürfen. Leitplanke rechts!, brüllen sie. Auf der anderen Straßenseite gibt es das alternative Leitplankenprogramm. Hier feiert man sich selbst als das Bessere. Der Schlichtling Peter Maffay und der unvermeidliche Wolfgang Niedecken, der wie viele geistesschwammige Männer im Alter immer mehr einer Kapotthut-tauglichen Oma gleicht, versichern sich und ihrem breiigen Publikum, wie zivilcouragiert sie doch seien, wie weltoffen, begegnungsreich, arsch huh und alles. Bettina Böttinger äugelt dazu, und Fritz Pleitgen, der seinem Kanzler Schröder das ist, was der ZDF-Intendant Dieter Stolte für Helmut Kohl war, nickt den Schleim ab. Das AOL-Modell Boris Becker leitplänkelt ein bisschen mit, und Franz Beckenbauer, der mit seinen eigenen Körperflüssigkeiten eingecremte Choleriker, hilft auch beim Kampf gegen das Böse. Wüsste man es nicht besser, es bliebe der Schluss: Wenn diese Truppe ausgepichter Windeier, Abgreifer und Schmierlappen gegen Nazis ist, müsste man eigentlich Nazi sein.
Aber das wäre eben auch ganz falsch, noch leitplankiger. Zwar sind die Deutschen in den Arschloch-Charts nicht mehr immer und zwingend führend; die anderen haben gut aufgeholt, und in den zukünftigen Olympia-Disziplinen Sich-öffentlich-am-Sack-Kratzen, Ins-Handy-Brüllen und Aufs-Trottoir-Rotzen entfaltet auch der ausländische Mitbürger seine ganze Pracht. Was aber die Unerbittlichkeit und die Tödlichkeit angeht, ist die deutsche Leitplanke Chef.
Wenn man ihnen ihre Leitplanken schon nicht wegnehmen kann, darf man immerhin drüberweg hüpfen. Innerhalb der Leitplankenkultur gibt es nichts zu finden, das sich zu suchen lohnte. Was außerhalb ist, weiß ich nicht – vielleicht eine Freiheit, die nicht nach Westernhagen stinkt.
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