village voiceUlrich Schnauss’ Album „Far Away Trains Passing By“: Weich gebettet
Die Zukunft entfernt sich wieder von uns. Mit dem Achtzigerrevival, das auch die elektronische Musik erfasst hat, ist der Blick zurück erneut hoffähig geworden. Die Cyborg- und Maschinen-Metaphern sind selten geworden und ein Act wie Fischerspooner stellt gar wieder den menschlichen Körper in den Mittelpunkt seiner Performance. Am weitesten fortgeschritten, was die Entmystifizierung der Maschine anbetrifft, ist zur Zeit eine Ansammlung von Elektronik-Produzenten um die Berliner Labels Morr und City Centre Offices. Eine Gruppe junger Menschen, vor allem Jungs, stellt dafür nicht nur ihre Musik und die eigenen Gesichter zur Verfügung, sondern ihr Innerstes und ihre Gefühle. Und das in einer Konsequenz, wie es für die elektronische Musik neu ist.
Die Verniedlichung eines ganzen Genres ist hier im vollen Gange. Man höre sich allein den Titel von Ulrich Schnauss’ neuer Platte an: „Far Away Trains Passing By“. So könnte auch eine Platte der Kreuzberger Tresenromantiker Element Of Crime betitelt sein. Ulrich Schnauss lässt dazu auf seinem Plattencover drei an einem öden Strand sitzende Jungs Blicke über das weite Meer in Richtung Unendlichkeit schweifen, als ob ihnen gerade klar werden würde: Hinter der Unendlichkeit fängt alles erst richtig an. Mit der Unmittelbarkeit von Techno, dem direkten Reiz der Sinne, hat das nichts mehr zu tun.
Es geht um das Aufwachen. Der Traum ist aus, Futuresound gegessen, Rave-O-Lution ein Treppenwitz. Vielleicht war alles nur ein Albtraum, und das eigentliche Leben beginnt erst. Dazu passt die musikalische Biografie von Schnauss. So einiges hat er bereits ausprobiert. Er war Autumn Leaf mit dem Berliner Techno-Impresario Frank Müller, als View To The Future reüssierte er gar 1997 mit einem Beitrag auf der offiziellen Compilation zur Mutter aller Großraves, der Mayday, und unter dem Pseudonym Ethereal 77 versuchte er sich an Drum&Bass. Die Hauptsache war: Party. Und die ist immer ein Versprechen.
Doch die Nacht und der Exzess sind nun vorüber, die Sehnsucht nach dem Einlösen des Versprechens aber geblieben. Vielleicht hat Judith den Ulrich weg von der Discokugel gelockt, hin zur Blumenwiese neben der Autobahn, wo das Glück nur noch gepflückt werden musste. Jedenfalls hat Schnauss „Judith“ seine Platte gewidmet, und „Blumenwiese neben Autobahn“ heißt ein Stück darauf. Ein anderes heißt „Knuddelmaus“. Ob Judith die Knuddelmaus ist? Möchte Schnauss mit seiner Offenheit uns unangenehm berühren oder nur sein Glück (mit)teilen?
Wohl Letzteres. Auch musikalisch geht es um Vermittlung, um zwar abstrakte Sounds, die sich jedoch einem konkreten Ursprung überdeutlich annähern. Wo Electronica normalerweise eine gewisse Weichheit durch anschmiegsame Soundknispeleien zu erreichen sucht, die sich dem Erbe des in den Neunzigern stilprägenden Elektronik-Labels Warp verpflichtet sieht, ignoriert Schnauss schlicht dieses Selbstverständnis und bewegt sich dramatisch auf eine Art Achtzigerjahre-Dreampop zu. Hier kann er sich austoben mit seiner Vorliebe für britischen Gitarrenpop von Chapterhouse bis My Bloody Valentine, die das Wall-Of-Sound-Prinzip Phil Spectors ins Extrem trieben.
Der Unterschied zu damals ist lediglich, dass bei Schnauss nicht Gitarrensounds im Studio zu Flächen und Wänden verfremdet werden, sondern zwischen dem Klang der Drumbox sich Synthie-Watte und Glöckchenspielaroma ausbreiten. Weil man darauf noch weicher liegt. Man kann sich tatsächlich mit Wohlbehagen hineinlegen in diese Musik, die einen weich bettet wie eine Blumenwiese.
ANDREAS HARTMANN
Ulrich Schnauss: „Far Away Trains Passing By“ (CCO/Hausmusik)
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