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Archiv-Artikel

thomas, der erfinder von BORIS HALVA

Habe heute Thomas gesehen. Thomas ging mit mir in die Grundschule. Wir waren keine dicken Freunde, aber ich mochte ihn. Ich mochte ihn, weil er so ein schräger Vogel war. Er war groß und dünn, und keine seiner Bewegungen war, nun ja, normal. Er lief nicht, er tänzelte, hüpfte beinahe, und er schnippte unentwegt mit seinen Fingern, während er erzählte. Und Thomas erzählte viel.

Aber nicht etwa von Colt Seavers und anderen Helden aus dem Fernsehen, er war auch keiner, der Jungs-gegen-Mädchen spielte oder auf den großen Erdhügeln im Neubaugebiet herumkletterte. Damit verbrachte ich Stunden meines Lebens. Thomas nicht. Thomas wollte Erfinder werden. Und ich war sicher, dass er das auch werden würde.

Er baute aus Fischer-Technik oder Lego mechanisch-pneumatische Geräte, die in den beigefügten Bauanleitungen nicht einmal andeutungsweise zu finden waren. Er las wissenschaftliche Magazine, nahm Wasserproben am Bach und beschriftete Lackmuspapierstreifen mit römischen Ziffern. In seiner Gegenwart kam ich mir als Neunjähriger schrecklich profan, geradezu dumpf vor.

Ich wohnte im Keller, sammelte Kram vom Sperrmüll und schraubte an meinem Fahrrad herum. Sein Zimmer war hell, aufgeräumt, und wenn wir an seinem Schreibtisch mit verstellbarer Schreibfläche saßen und Hausaufgaben machten, war ich hin und her gerissen zwischen Bewunderung für und Sorge um diesen Jungen, der minutenlang kleine Kurbeln bediente, um mit einem selbst konstruierten Kran mit Schwenkarm und Magnetgreifer seinen Spitzer aus dem Mäppchen zu angeln. Oder am Relais seines batteriebetriebenen Zufallsgenerators herumfummelte, bis dieser ein Lämpchen aufleuchten ließ in der Farbe, mit der Thomas den Hund in unserer Fibel heute ausmalen würde.

Thomas war ein komischer Typ, aber es machte mich auf eine unerklärliche Weise glücklich, ihm dabei zuzusehen, wie er nur die Endstücke eines Fischstäbchens aß, aber bei Würstchen genau diese liegen ließ. Erbsen schob er immer in zwei Dreierreihen auf die Zinken der Gabel. Dass er noch ein Töpfchen unter seinem Bett hatte, das er ohne den Anflug von Scham auch vor meinen Augen benutzte, steigerte die Faszination.

Ich habe immer wieder von Thomas erzählt, und ich war sicher, dass er heute als Erfinder arbeitet. Bis heute. Bis ich ihn mit seiner Mutter durch die Stadt laufen sah, im hellblauen Hemd, mit weißer Hose, hellen Ledersandalen und Tennissocken, den Kopf leicht nach unten geneigt, ein angestrengtes Lächeln im Gesicht. Ich weiß nicht, warum mir die beiden aufgefallen sind, vielleicht war es sein Gang, dieses runde, kraftlose Fuß-vor-Fuß-Setzen. Ich blieb stehen und sah den beiden nach. Mein Blick fiel auf die Hände des jungen Mannes. Ich bekam Gänsehaut. Er schnippte mit den Fingern, aber nicht wie damals, die Arme angewinkelt, die Hände weit vom Körper weg, unablässig in verschiedenen Tonhöhen und Lautstärken schnipsend und schnappend; er tänzelte auch nicht mehr. Er schlich über den Bürgersteig, seine Arme hingen herunter, die Finger kraftlos aneinander reibend. Ich sah den beiden noch lange nach.