piwik no script img

themenläden und andere clubsAusgeherlebnisse zweiter und dritter Ordnung

Der Friseur

Die Friseurgeschäfte, die vor drei oder vier Jahren in der Umgebung des Hackeschen Marktes neu eröffnet wurden, waren so spartanisch wie die Haarschnitte, mit denen dort das so genannte Szenepublikum versorgt wurde. Außerdem war die Musik so laut, dass vorbereitende Gespräche mit den Kunden ausfallen beziehungsweise auf den Austausch von Millimeterangaben reduziert werden mussten.

Damals wohnte ich noch in Mitte, und aus Angst vor allzu radikalen Lösungen ging ich zu einem Friseur nach Kreuzberg. Er trug die Haare zwar ebenfalls sehr kurz, den Wünschen seiner Kunden aber stand er relativ offen gegenüber, und die Musik war leise. Der Friseur erzählte gerne kleine Geschichten aus seiner eheähnlichen schwulen Lebensgemeinschaft in Schöneberg. Bereits einige kurze und höflich gemeinte Nachfragen führten sogleich zu intimeren Einlassungen, und da der Friseur ein gutes Gedächtnis hatte, konnten wir bei jedem Besuch nahtlos an das letzte Gespräch anknüpfen.

Nach der Hantelbank im Schlafzimmer und anderen häuslichen Fragen widmete er sich später den Bars in Schöneberg. Warum auch nicht. Man freut sich ja immer, wenn man als Beobachter zweiter Ordnung an Erlebniswelten teilnehmen darf, die einem sonst verschlossen bleiben.

Nachdem mein Friseur nach drei Sitzungen alle wichtigen Treffpunkte seines Stadtteils – „Kreuzberg wär mir echt zu laut“ – durchgegangen war, wandte er sich schließlich seinem Engagement als Präsident eines Sadomaso-Vereins zu. Auch das war interessant, doch als er unter heftigem Scherenschwingen offensiv mit der Mitgliederwerbung begann, wechselte ich den Friseur.

Inzwischen war ich nach Friedrichshain gezogen, in einen Bezirk also, in dem Friseurgeschäfte früher Frisiersalons hießen und genauso wie die Kneipen in den Ecklokalen der Häuser untergebracht waren. Inzwischen sind die Eckkneipen nahezu vollständig durch Cocktailbars ersetzt worden, und ein Teil der ehemaligen Frisiersalons setzt auf sanfte Anpassung durch Modernisierung: Die Haarschnitte, die hinter halbdurchlässigen Gardinen entstehen, heißen jetzt „Styles“.

In den zuletzt neu eröffneten Friseurgeschäften dagegen setzt man auf Beschäftigte, die sich gegenüber den aus Mitte nach Friedrichshain übergesiedelten Szeneflüchtigen als anschlussfähig erweisen und ihre Biografien und Selbstzweifel widerspiegeln: So wird man vom Beobachter zweiter zum Beobachter dritter Ordnung.

Mein neuer Friseur ist ein in die Jahre gekommener Raver. In letzter Zeit ist er jedoch – „ keine Angst, bin nicht schwul“ – wegen der guten Laune und der guten Drogen fast nur noch auf den GMF-Nights unterwegs oder im Sternradio am Alexanderplatz, wo man auch als Überdreißigjähriger offenbar nicht allzu sehr auffällt. Er verfolgt sehr wohl noch die neuesten Entwicklungen auf dem House-Sektor, in Kleidungsfragen jedoch ist er verhalten konservativ geworden. Bei meinem letzten Besuch zum Beispiel setzte mein Friseur zu einem längeren Monolog über die seiner Meinung nach lächerlich weiten Hosen der Jugend von heute an.

Meine Bemerkung, mit sechzehn könne man derartige Kleidung sehr wohl mit Würde tragen, verärgerte ihn. Er wechselte das Thema und begann von den Frisuren zu erzählen, die zur Zeit sehr in Mode sind: „Im Nacken lang, die Koteletten wieder ganz breit und vorne so eine Art zur Seite gelegter Hahnenkamm.“ Während unsere Blicke sich im Spiegel trafen, ergänzte er mit einem bösartigen Lächeln: „Aber dafür braucht man echt viel Haare.“ Tatsächlich wachsen meine Geheimratsecken beständig, und meinen nächsten Friseur werde ich mir in Mitte suchen. Es wird ein Gefühl sein, wie nach Hause zu kommen. KOLJA MENSING

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen