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themenläden und andere Clubs Es folgt: der WetterberichtNoch mehr Schicksalsschläge

Als ob der aufreibende Jahresbeginn mit der Euroumstellung, dem Schnee und all den Katastrophen wie dem Ende von Viva 2 und der Berliner Reiterstaffel nicht gereicht hätte! Jetzt prasseln neue Schicksalsschläge auf uns leidgeprüfte Berliner ein. Unglaubliche Hitzewellen, warme Orkanböen und Sommergewitter ziehen über uns hinweg, belasten uns zunehmend und bringen unsere festgefügten Wertvorstellungen durcheinander. Die Säulen unserer Kultur, das was die zivilisierte Welt ausmacht, die heiligen vier Jahreszeiten werden durch dieses meteorologische Spektakel verhöhnt, geradezu ad absurdum geführt.

„Der Winter, der ein Frühling war“ werden freche auf Dogmaart gefilmte Szenekomödien (mit Jochen Vogel und Jasmin Tabatabai) über diese seltsam verrückten Tage Anfang Februar 2002 einmal heißen. Vorgestern, also noch im Januar, wurde der erste Maikäfer in Brandenburg gefunden, vom Umweltamt Potsdam wird er jetzt durchgefüttert. Schlagworte drängen sich auf: Verkehrte Welt, Klimakatastrophe, Treibhauseffekt. Die Haselnusssträucher schlagen aus.

Wo soll das alles hinführen? Sollten der Club of Rome und die anderen alten Endzeitpropheten doch Recht gehabt haben? Nicht nur die Sorge um die Natur treibt uns um, auch die Sorge um uns selbst. Es geht uns wie den Kröten und Lurchen, die total orientierungslos über die Straßen taumeln. Die innere Uhr dreht durch. Gewiss haben wir uns immer über den langen Winter und über den kurzen Sommer von Juni bis August beschwert. Jetzt aber dämmert uns, was wir an den langen trüben Wintermonaten hatten. Die ganze Innerlichkeit und Vergeistigung geht flöten, wenn man sich nicht zwischen September und Mai mit lichtmangelbedingten Depressionen quälen muss. Dafür setzt die unnatürlich warme Luft ein ganz feiges unbestimmtes Sehnen in der Herzgegend frei, übersensibilisiert und doch erlebnisarm sind wir dem Spiel des Wetters ausgesetzt. Diese Unvereinbarkeit der gefühlten äußeren und biologischen inneren Temperatur zerreißt uns in diesen Tagen. Man möchte fast heitere Gedichte schreiben und luftige Erlebnisse haben, dabei ist der uns angemessene seelische Zustand immer noch der Winterschlaf.

Kleinste Niederlagen wie zum Beispiel das desillusionierende Ende eines euphorischen Winterschlusseinkaufs, wenn die neuen Turnschuhe zu Hause doch mehr drücken als im Geschäft – diese kleinen Unbilden des Alltags können im Hitzestau eines verfrühten Frühlings zu ausgewachsenen seelischen Verletzungen führen.

Zum Glück sieht in Berlin immer noch alles relativ grau und scheiße aus. Bei diesem gemütsaufpeitschendem Wetter würde man ja angesichts irgendwelcher interessanten Kultur- oder Naturschönheiten ganz verrückt werden. Es ist so schon schwer genug. Wohin mit sich, wenn vor den Cafés schon die ersten Idioten vor ihren blöden Milchkaffees sitzen und lesen, die ersten Deppen mit halbärmligen T-Shirts rumlaufen und es einem zu neuen Hobbys wie „Hundebeobachtung im Vorfrühling“ auf die Parkbänke zieht?

Man fürchtet sich fast vor sich selbst. Wenn man doch in die Nacht flüchten, sich mit allen Mitteln betäuben und das Tagesklima ignorieren könnte! Aber auch das ist kein Ausweg. Denn dass abends und nachts in dieser schwülheißen Stadt nichts, aber auch gar nichts geboten wird, wurde in dieser Kolumne ja schon zur Genüge nicht totgeschwiegen. Wer es sich leisten kann, flüchtet nach Finnland oder in einen der GUS-Staaten, dort herrschen noch einigermaßen akzeptable Temperaturen. Den Hiergebliebenen bleibt als einziger Trost, in Berlin und nicht zum Beispiel im Pfaffenwinkel zu wohnen, dort soll es am Wochenende ekelhafte 20 Grad geben. CHRISTIANE RÖSINGER

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