tellerrand: Trabrennbahn Alt-Mariendorf
Gebissgalopp
Man muss ja nicht unbedingt in Alt-Mariendorf etwas essen. Und wenn es einen schon ans Ende der Berliner Welt verschlägt, dann sollte man keine hohen Ansprüche stellen. Schließlich lebt das sandige Oval für die großen Pferde mit ihren kleinen Jockeys eher von der Spiel- als von der Fresssucht.
Deshalb auch steht kein Tisch auf den Restaurantterrassen waagerecht. Das Gelände steigt steil an, damit niemand dem anderen die Sicht nimmt, wenn die Pferdeherde auf die Zielgerade zustürmt. Folglich werden die Gläser in Altmariendorf nicht zu voll gezapft, es würde auf den geneigten Tischen ohnehin nur überlaufen. Die Steaks und das Frikassee halten sich ganz gut auf den Tellern, die lang gestreckten Thüringer geraten schnell in Bewegung, und wäre da nicht der Senf, würde so manche Wurst zwischen den Tischen hindurch in den märkischen Sand rollen.
„Meen Gaul hat schon wieder verloren!“, ruft entrüstet eine dicke Dame und streicht demonstrativ eine Seite im Programmheft durch. „Soll ich dir noch was mitbringen?“, fragt der dünne Gatte im herthafarbenen Plastikhemd. „Ich probier noch mal den Sauerbraten!“, sagt sie. Der Gatte schiebt die schmale Brille zurück und betrachtet seine Gattin genauer. Die schmale Raverbrille des Herthafans ist eine Rarität auf der Trabrennbahn. Gängiger sind die großen, viereckigen Sonnenbrillen aus den Siebzigern. Knefbrillen. Sie würden den Männern mit den silbernen Zöpfen und den goldenen Uhren und Kettchen einen Hauch von Lagerfeld verleihen – wären dahinter nicht diese Visagen von aufgestiegenen Türstehern. Auch andere Erscheinungen der Unterwelt sind auf dem Platz, Taschendiebe mit Pudelhaarschnitt, elegant gekleidete Heiratsschwindlerinnen aller Altersklassen, und der Lautsprecher freut sich, „an diesem wunderschönen Renntag“ einen gewissen Herrn „von Richthofen begrüßen zu dürfen“.
„Das ist doch kein Sauerbraten!“, sagt die Dicke. „Es gab nur noch Kassler!“, sagt der Dünne und verfolgt mit dem Feldstecher die Pferde auf der Gegengerade. „Und Schweinshaxe mit Sauerkraut. Du magst doch kein Sauerkraut!“ Die Dicke zieht sich den Teller heran, blickt abwechselnd zum Fleisch hinunter und zum Lautsprecher hinauf: „Teddy liegt in Führung, da kommt auf der Außenbahn Excelsior, Excelsior holt jetzt auf, jetzt liegt Excelsior gleichauf mit Teddy, Excelsior könnte es machen, dreihundert Meter noch, Teddy gleichauf …“ Und während Teddy und Excelsior aus der letzten Kurve kommen, steigern auch die mahlenden Kiefer der Dicken das Tempo, immer erregter arbeitet das Gebiss, bis die Pferde durchs Ziel gehen, „Excelsior hat gewonnen“ – die Dicke hat plötzlich aufgehört zu kauen, nur ein kleines Stück Kasslerknochen lugt noch aus ihrem Mundwinkel. HANS W. KORFMANN
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