taz-serie: kippt der osten?: GESINE SCHWAN zu den Thierse-Thesen
Hochschulen halten die Eliten
Der Osten steht „auf der Kippe“: Mit diesem Satz hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) bundesweit eine erregte Debatte ausgelöst. In Berlin blieb es bislang merkwürdig still. Sind in der Region bereits alle Probleme gelöst? Oder werden sie von der Politik nur ignoriert? In der taz antworten Prominente aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Heute: Gesine Schwan, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).
Der Streit, den die Thesen des Bundestagspräsidenten Thierse über die Situation in Ostdeutschland ausgelöst haben, war überfällig. Thierses objektive Daten zur Wirtschaftsanalyse werden von den Kritikern nicht in Zweifel gezogen, aber man wirft ihm vor, er ziehe falsche Konsequenzen: Er male zu schwarz und provoziere damit eine Entwicklung, die er verhindern wolle.
Die Einwände, die dem Bundestagspräsidenten eine aufholende Aufwärtsentwicklung Ostdeutschland entgegenhalten, überzeugen nicht. Weiter führen jedoch Argumente, die auf eine Differenzierung und Spezifizierung der Thesen zielen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung weist auf markante regionale Unterschiede hin. Daher müsse die Förderung in Zukunft gezielter erfolgen als bisher. Während die „Achse Dresden–Chemnitz– Eisenach“ gute Aussichten habe, selbst immer besser in Gang zu kommen, sehe dies in den „ländlichen Regionen entlang der polnischen Grenze“ ganz anders aus.
In der Tat ist dieser Teil Ostdeutschlands – nach meinen Erfahrungen in Frankfurt (Oder) im letzten Jahr – eine besonders kritische Gegend, kritisch im ursprünglichen Sinne des Wortes. Denn hier steht es im Sinne Thierses auf der Kippe. Entweder es gelingt, die Region zu einem wirtschaftlich starken Gelenk zwischen Deutschland und Polen zu machen – wozu es gute Chancen gibt –, oder dieser Teil Deutschlands wird zu einem dauernden wirtschaftlichen und sozialen Sorgenkind, einer nicht heilenden Wunde aus Depressivität, Gewalt und Unterstützungsbedürftigkeit.
Engagierte Politiker und Wirtschaftsvertreter versuchen dort unermüdlich, neue, zukunftsträchtige Investoren zu gewinnen, um einen selbsttragenden Aufschwung in Gang zu setzen. Bisher ist dies noch nicht wirklich gelungen. Je länger der Aufschwung ausbleibt, desto niedergeschlagener wird die Stimmung, desto mehr junge aktive Menschen wandern ab, desto schwieriger wird es werden, den Trend umzukehren. Wenn die Taxifahrer am Bahnhof Frankfurt (Oder) über Jahre hinweg konstant feststellen, dass immer weniger Fahrgäste sich Taxen leisten können, dass die Bevölkerung der Stadt ständig abnimmt, dass Geschäfte schließen, Wohnungen leer stehen – dann versiegt der entscheidende Quell für einen selbsttragenden Aufschwung: die Zuversicht der Bevölkerung im Allgemeinen und der aktiven Eliten im Besonderen.
Wenn wir diesen Negativzirkel überwinden wollen, müssen wir uns beeilen, an strategisch wichtigen Stellen markante und öffentlich spürbare Investitionen zu veranlassen, die ihrerseits weitere Investitionen auslösen. Dazu gehören die Infrastruktur und ganz wesentlich die Hochschulen – sowohl mit ihren direkten Bezügen zu Wirtschaft und Technologie als auch mit ihren indirekten kulturellen Beiträgen. Sie sind mindestens ebenso wichtig, weil sie erst die Lebensqualität schaffen, aufgrund deren sich aktive Eliten entscheiden, in diese Gegend zu ziehen und sich dort zu engagieren. Straßenbau ist wichtig, aber Hochschulen sind strategisch erheblich wichtiger.
Wir brauchen an entscheidenden strategischen Orten merkbare Kicks, damit die Bevölkerung wieder Zutrauen in die Zukunft gewinnt und die Region sich mit zuversichtlicher Energie in eine viel versprechende Zukunft aufmachen kann.
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