taz-serie: kippt der osten?: ANDREAS SCHULZE zu den Thierse-Thesen
Mangel an ideellen Gesamtberlinern – auch bei den Grünen
Der Osten steht „auf der Kippe“: Mit diesem Satz hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) bundesweit eine erregte Debatte ausgelöst. In Berlin blieb es bislang merkwürdig still. Sind in der Region bereits alle Probleme gelöst? Oder werden sie von der Politik nur ignoriert? In der taz antworten Prominente aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Heute: Andreas Schulze, Landesvorstandssprecher von Bündnis 90/Die Grünen. Bereits erschienen sind Beiträge von Gesine Schwan (27. 1.), Klaus Landowsky (31. 1.) und Bärbel Grygier (2. 2.).
Für die Berliner Situation sind Thierses Thesen nicht geschrieben, gleichwohl an einigen Stellen bedenkenswert. Nirgendwo sind Ost und West dichter zusammengewachsen als in Berlin. Ost- und Westkollegen treffen im Arbeitsalltag aufeinander. Studentinnen und Studenten, die sich an einer Berliner Hochschule einschreiben, unterscheiden längst nicht mehr nach Ost und West, der Wohnungsmarkt auch nicht. Neben dieser Wirklichkeit besteht jedoch ein tief sitzendes Gefühl der Ungleichheit fort. Unterschiedliche Löhne und nicht anerkannte Biografien geben diesem Gefühl neue Nahrung. Diese Wirklichkeit erfasst Thierse in der 4. These sehr genau.
Hier geht es um die Konflikte um Identität und Identifikation „quer durch die ostdeutsche Übergangsgesellschaft“. Mitten durch Familien geht der Konflikt zwischen „gesamtdeutsch Gewordenen“ und „ostdeutsch Gebliebenen“. Auf der Ebene der Identifikation wird Thierse genau: „Ostdeutsche müssen [. . .] stärker in und über die Medien, durch Vertretung in und von Institutionen der Politik und Kultur ihre Zugehörigkeit erkennen.“ Gesamtdeutsch gewordene Ostler müssen sich zeigen, aber auch durchgelassen werden, lesen wir, oder einfacher: Westler müssen Platz machen. Volltreffer! Wer keinen Platz machen will, findet rasch eine scheinheilige Ausrede und fordert flugs, die Mauer in den Köpfen nicht neu zu errichten.
Zugehörigkeit und Wiedererkennung wird Ostlern in der politischen Landschaft nicht so einfach gemacht. Die hat das alte Westberlin vor allem personell unter sich aufgeteilt. Beim CDU/SPD-Senat ist alles übersichtlich geordnet. Eine Ost-Quoten-Senatorin darf mitregieren, und kein einziger der 23 Staatssekretäre kommt aus dem Osten. Selbst bei der Opposition dominieren – Ausnahmen bestätigen die Regel – Westgesichter. Aber das alte Westberlin hat nicht nur die Landespolitik fest im Griff. Auch ihre Kommentierung in den Berliner Medien obliegt faktisch dem Westen. Statt auf „Vertretung und Zugehörigkeit in Medien, Politik und Kultur“ trifft der Ostberliner überall auf eine merkwürdige Melange aus Morgenpost, Günter Pfitzmann und Eberhard Diepgen.
Es wäre unredlich, nur auf die Anderen zu zeigen. Auch bei Bündnis 90/Die Grünen waren und sind „Vertretung und Zugehörigkeit“ kaum ein Kriterium für die personellen Politikangebote. „Ostdeutsch Gebliebene“ und „gesamtdeutsch Gewordene“ stehen sich auch bei den Ostgrünen gegenüber, treffen in dieser Differenz auf ihre Westberliner Parteifreunde und kommen denen nicht näher. Die politische Allgemeinbildung der Ostberliner haben in den Diskursen der Westfreunde nämlich geringen Gebrauchswert. Die Kenntnis dessen, was des Westfreundes Ziel ist („wir haben immer gesagt . . .“), bieten schon bessere Voraussetzungen. Gesamtdeutscher wird der Westberliner dadurch nicht. Das aber wäre angesagt.
Der Mangel an ideellen Gesamtberlinern in der Berliner Politik mag eine von mehreren Ursachen dafür sein, dass von politischen und kulturellen Leitbildern für Berlins Metropolenentwicklung keine Rede sein kann. Für Ost wie West identifikationsstiftende Figuren wurden in Berlin nie gefunden, wohl auch nie gesucht. Der Mangel an gesamtdeutsch gewordenen Ostbiografien in der ersten Reihe erschwert den Parteien den Zugang zu den Menschen, denen die Westberliner Hegemonie gegen den Strich geht. Damit sind die Parteien allerdings von den Ostberlinerinnen und Ostberlinern in einem wesentlichen Punkt – Identifikation – zu weit entfernt. Das hat auch Thierse erkannt und schließt deshalb: „Die Glaubwürdigkeit der Demokratie [. . .] hängt letztlich an der Effizienz der Interessenvertretung durch die Politik.“ Zustimmend fügt der Autor hinzu: Das gilt nicht nur für die anderen Parteien.
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