taz-lab-Kolumne S(ch)ichtwechsel #10 : Bildungssystem in Schieflage
Über die Unfairness unterschiedlicher Verhältnisse und Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem.
Von NISA EREN
In unserer taz-lab-Kolumne S(ch)ichtwechsel schreiben unsere Autor:innen wöchentlich über Klima und Klasse.
taz lab, 19.03.2022 | Vor zwei Jahren habe ich meine Tätigkeit in der offenen Kinder- und Jugendarbeit im Hamburger Schanzenviertel (in der Gegend, in der auch ich meine Kindheit verbracht habe) begonnen. Früher habe ich selbst oft die Angebote der Nachmittags- und Ferienbetreuung in der Umgebung genutzt.
Heute sind einige der Kinder, die in die Einrichtung kommen, nicht in der Schanze aufgewachsen. Viele sind erst vor wenigen Jahren vor dem Krieg aus Syrien oder Afghanistan geflohen.
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Herausfordernde Hausaufgaben
Letztens saß ich mit einer Neuntklässlerin zusammen an ihrer Hausaufgabe zum anthropogenen Treibhauseffekt. Spannendes Thema, schwieriger Begriff. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, die zwei Seiten dazu im Schulbuch zu lesen. Am Ende blickte das Mädchen mich mit großen Augen an: „Ich hab nichts verstanden“, sagte sie.
Obwohl sie sehr flüssig Deutsch spricht, hat sie mit derartigen Texten noch Schwierigkeiten. Dank der Abbildungen schafften wir es aber, zumindest einige ihrer Fragen zu klären. Inzwischen war fast eine Stunde vergangen.
Weitere 45 Minuten brauchte sie, um eine halbe Seite Text zu formulieren. Ich wusste, dass dieser nicht ganz den Anforderungen entsprach, aber wenigstens war er fehlerfrei. Ich versuchte, mich nicht darüber zu ärgern. „Fertig. Ich bin stolz auf uns!“, sagte ich zu ihr.
Systemversagen?
Auf dem Heimweg ärgerte ich mich dann doch. Ich finde es unfair, dass sie keine Chance hatte, inhaltlich viel von den zwei Stunden Arbeit mitzunehmen. Einfach weil die Aufgabe zu kompliziert ist für ein Kind, das erst seit drei Jahren in Deutschland lebt. Und vielleicht auch für Kinder, in deren Haushalten Bildung nicht an erster Stelle steht, weil die Kapazitäten fehlen. Es macht eben einen Unterschied, aus welchen Verhältnissen ein Kind kommt.
Müsste unser System nicht in der Lage sein, das abzufangen? Ich bin mir sicher, dass dieses Mädchen sich unter besseren Bedingungen sehr für Klimathemen engagieren würde. Warum ist es so schwer, ihr das zu ermöglichen? Wieso ist nicht schon längst mehr passiert? Chancenungleichheit ist doch kein Problem, das sich einfach in Luft auflösen wird!