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taz-adventskalenderZurück in den Mythos

Wolfgang Herrndorf: „In Plüschgewittern“, 2002/2012, 192 Seiten, rowohlt, 8,90 Euro

Wer etwas über Berlin lesen will, hat viel Auswahl. Die schönsten Schriftstücke stellt die taz bis Weihnachten täglich vor. Und es geht nicht nur um Bücher!

Zwei Dinge wird es ewig geben: meine Sehnsucht nach jener wilden Ära in Berlin, die symbolisch zu Ende ging, als 2010 – wenige Tage nach meinem Umzug in die Stadt – die Bar 25 schloss. Und den urbanen Coming-of-Age-Roman. Ja, in der Literatur hat es Tradition, einen jungen (und meist männlichen) Sinnsucher auf Irrfahrt durch die große Stadt zu schicken. Aber keiner spielte den Big-City-Blues so traurig und schief wie der 2013 verstorbene Wolfgang Herrndorf.

Als sein Roman „In Plüschgewittern“, erschienen 2002, mir mit Anfang 20 in die Hände fällt, wähne ich mich selbst auf Irrfahrt. Passend also, dass es den Erzähler, einen Typen um die 30, ins Berlin der frühen nuller Jahre verschlägt. Herrndorfs Antiheld ist weder ein aufdringlich lebenshungriger Schnösel wie Benjamin von Stuckrad-Barres frühe Romanfiguren noch so nihilistisch wie Christian Krachts „Faserland“-Protagonist. Sondern ein Mensch, der sich fühlt „wie mit Beton ausgespritzt“; der sich selbst zu schwer wird, der so sensibel wie erbarmungslos mit der Welt und sich selbst ist.

Man mag ihm abwechselnd ein Pils ausgeben und eine scheuern, wenn er etwa über Frauen nachdenkt, „die im R4 herumfahren und in Reggae-Discos gehen, um Asylbewerber flachzulegen“. Weil es zum Schreien und zum Schämen ist, wie dieser Zyniker an der Scheinheiligkeit und den sorgfältig verdrängten Ressentiments von Linken wie mir selbst rührt.

Herrndorfs Namenloser ist durch die 90er gegangen, dieses Fun-Stahlbad, wie der alte Pop-Skeptiker Adorno wohl sagen würde, und landet in einer unfertigen, unmöglichen Stadt, in einem Berlin vor „Be Berlin“ – in Plüschgewittern eben. Schläft in Bruchbuden. Hockt in illegalen Kellerbars und im Kaffee Burger. Das sind Szenen, an denen sich Zuspätgekommene wie ich nicht sattlesen können.

Gleichzeitig entlarvt Herrndorf das geliebte Lied vom Nachwende-Wunderland als Folklore, indem er die Stadt aus den Augen eines Lebensmüden betrachtet. Kein imagefilmtauglicher Hedonismus, sondern Kater ohne Rausch, Vereinzelung und Kälte, die nicht cool ist. Allem kleinen Glück ist so aufrichtig große Wehmut eingeschrieben, dass man sie schon von Weitem zu sehen glaubt: die Bagger, die den Abenteuerspielplatz Berlin zum Disneyland umbauen werden. Und die Leitplanke, vor die der Namenlose sein Auto schließlich steuert. Das mag grausam klingen, ist aber vor allem: ein Großstadt-Blues, den die Großstadt genauso verdient wie Loblieder. Julia Lorenz

Berlin-Faktor: „Und auf der anderen Seite redet Ines über italienische KZ-Pornos der 70er Jahre.“

Taugt als Weihnachtsgeschenk für: alle, denen nichts Menschliches fremd ist

Kunden, die das kauften, kauften auch: ein Herrengedeck an der Bar

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