taz-Serie „Was macht eigentlich…?“ (6): Wer ist unverzichtbar?
Wer ist eigentlich wirklich relevant in unserer Gesellschaft: Die Pandemie hält da bisher durchaus einige Lektionen für uns bereit.
Als es im März 2020 hieß: „Bleibt zu Hause“, gab es einige, die unbehelligt weiter durch die Straßen gehen konnten – ja, gehen mussten, denn sie waren „systemrelevant“. Der Begriff spukte zu Beginn der Pandemie durch alle deutschen Medien. 3.027 Einträge aus dem Jahr 2020 findet man, tippt man ihn in eine Pressedatenbank. Im Jahr 2021 hat sich die Erwähnung des Wortes dann fast halbiert. Was ist mit der Systemrelevanz passiert?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, muss als Erstes geklärt werden, was Systemrelevanz überhaupt bedeutet. Nun, ist man systemrelevant, dann steht man auf einer entsprechenden Liste. Und weiter? Wie wird man denn relevant für das System?
Die Systemrelevanz ist eine alte Kategorie im Krisenmanagement. Der Staat hat gegenüber den BürgerInnen die Pflicht, unverzichtbare Infrastruktur am Laufen zu halten. Auch dann, wenn er diese in die private Hand abgegeben hat. Bereits 2016 schaffte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) deshalb in Abstimmung mit den Ministerien die Grundlage für die Bewertung kritischer Infrastruktur.
Damals einigte man sich auf sechs Sektoren, die im sogenannten BSI-Gesetz festgeschrieben wurden. Diese Sektoren gelten als unverzichtbar, um Versorgung und Sicherheit der Allgemeinheit zu gewährleisten: Energie, Wasser, Ernährung, Informationstechnik und Telekommunikation, Finanz- und Versicherungswesen, Transport und Verkehr.
Die meisten Geschichten enden nicht einfach, nachdem wir in der taz darüber berichtet haben. Deshalb fragen wir weiter und haken noch einmal nach: In unserer Serie „Was macht eigentlich ... ?“ rund um den Jahreswechsel 2021/22 erzählen wir einige dieser Geschichten weiter.
Die Systemrelevanz – Teil 6: Warum hat eigentlich die anfangs vielzitierte Systemrelevanz den Systemrelevanten selbst so wenig gebracht?
Alle Texte der „Was macht eigentlich ...“-Serie sind online auf taz.de/berlin nachzulesen. (taz)
Aber fehlt da nicht etwas? Zum Beispiel ein Sektor „Obhut und Fürsorge“? Dieser Bereich wurde zu Beginn der Pandemie noch als Mittel zum Zweck angesehen. So bekamen Beschäftigte in den bereits benannten Sektoren in vielen Kommunen ein Recht auf Kindernotbetreuung – die BetreuerInnen selbst aber galten nur dann als systemrelevant, wenn sie Kinder von Systemrelevanten betreuten.
Fürsorge als Mittel zum Zweck
Inzwischen hat sich der Trend umgekehrt: Die meisten Bundesländer geben als oberste Devise aus, Schulen und Kitas offen zu halten. Die Fürsorge scheint vom Mittel zum Zweck avanciert zu sein. Es hat sich also herausgestellt, dass „Obhut und Fürsorge“ – zum größten Teil von un- oder unterbezahlten Frauen bereitgestellt – sozusagen der Super-Sektor ist.
Trotzdem sagt Marianne Suntrup, Pressesprecherin des BBK: „Aus Sicht des BBK hat die Pandemie die Einschätzung, was zur kritischen Infrastruktur dazugehört, nicht großartig verändert.“ Die Sektoren sind immer noch die gleichen. So richtig aussagekräftig sind diese Sektoren aber nicht, denn letztlich bleibt es den Ländern und Kommunen überlassen, die kritische Infrastruktur zu bestimmen. In der entsprechenden Liste des Berliner Senats von 2021 findet sich dann auch der Sektor „Obhut und Fürsorge“. Reinigung und Kochen ist immerhin unter „Sonstiges“ mit aufgelistet.
In Douglas Adams’ Buch „Das Restaurant am Ende des Universums“ gibt es drei Raumschiffe, die zu einer neuen Welt aufbrechen sollen. Auf dem „Ark Fleet Ship B“ sitzen die Phonesanitizers, also die, die Berufen nachgehen, die für die Gesellschaft bei Adams weitgehend überflüssig sind. Auf diesem Raumschiff finden sich neben den TelefondesinfiziererInnen denn auch ManagerInnen, Marketing-SpezialistInnen, Versicherungskaufleute und viele mehr, die der Gesellschaft nur einen sehr überschaubaren Nutzen liefern.
Die Liste der Bundesregierung zur Systemrelevanz ist also sozusagen eine Passagierliste für die Raumschiffe A und C, auf denen nämlich die nicht-überflüssigen Berufe mitfliegen. Starteten wir heute ins All – und Gründe genug hätten wir ja –, würden wir auf unserem neuen Planeten eben eine Gesellschaft ohne Kinderbetreuung vorfinden – ohne KöchInnen und ohne Reinigungspersonal.
Trotzdem sind die Sektoren aus dem BSI-Gesetz nicht völlig nutzlos. Man könnte sie zum Beispiel als Blaupause für eine Verstaatlichung sehen. Alle aufgelisteten Bereiche sind „unverzichtbar“ für das Wohl der Allgemeinheit. Es wäre nicht völlig abwegig zu behaupten, dass es gerade diese Bereiche sind, die wir gut und gerne im Kollektiv finanzieren könnten – über Steuern. Das könnte zumindest ein Anfang sein – weitere müssten folgen. Dann müsste der Staat auch nicht überall eingreifen, wo die Preisentwicklung die ärmeren – systemrelevanten – Bevölkerungsgruppen vom Konsum ausschließt.
Vielleicht ist das größte Verdienst der Pandemie, dass sie uns gelehrt hat, wer die Phonesanitizers in unserer Gesellschaft eigentlich sind. Und hier endlich finden wir womöglich auch den Grund für die plötzliche Unpopularität des Begriffs „Systemrelevanz“.
Systemrelevant wie die Bankenbosse
Vielleicht – aber nur vielleicht – ist der Begriff deshalb aus der Mode gekommen, weil er im Kontrast doch zu offensichtlich auf die Irrelevanz der Einrichtungen aufmerksam macht, die 2008 schon einmal als systemrelevant beschrieben wurden. Nur ganz vielleicht ist es den PolitikerInnen peinlich, von systemrelevanten SupermarktverkäuferInnen zu reden, wenn sie nur ein paar Jahre vorher noch beschworen, dass niemand so systemrelevant sei wie die großen Bankenbosse.
Die Erinnerung an „too big to fail“ ist wohl einfach zu absurd in einer Zeit, in der es immer offensichtlicher wird, dass alles funktioniert, solange nur die LastwagenfahrerInnen nicht krank werden und das Pflegepersonal keinen Urlaub braucht. Vielleicht also wird die Systemrelevanz der Nicht-BankerInnen einfach heruntergespielt, damit sie ja nicht auf die Idee kommen, sie könnten vom System auch mehr verlangen.
Vielleicht auch nicht. Aber eines haben wir auf jeden Fall gelernt: Kritische Infrastruktur fängt nicht bei Banken an. Nicht umsonst hieß es schon bei Marx: Morgens fischen, mittags jagen, abends kritisieren. Und nicht etwa: Morgens traden, mittags consulten und abends Geld zählen. Die Fürsorge allerdings kam auch bei Marx schon zu kurz. Wahrscheinlich war der Philosoph vom systemrelevanten Leben einfach zu weit entfernt. Auch er war vielleicht eher ein Phonesanitizer, wenn man mal so drüber nachdenkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich