taz-Serie: Die Macht der Waffen: Der Regen und die Polizei
Dreimal berührt der Polizist unauffällig das Auto, das er kontrolliert. Er hinterlässt seine Fingerabdrücke – falls geschossen wird. Mit auf Streife in Chicago.
CHICAGO taz | Die Luft ist warm an diesem Abend in Chicago, doch der Himmel grau. Im äußersten Westen Chicagos weht nicht der Wind vom See herüber, der in den teuren Vierteln mit Blick aufs Wasser stets umgeht. Hier drücken die Wolken auf die Dächer der einfachen Holzhäuser mit ihren Veranden und den dreckigen Gassen davor.
Es sieht nach Regen aus in Austin, einem der ärmsten Viertel der Stadt. Kaiserwetter für die Polizisten Brenna Scanlan und Brent Antesberger. Wenn es regnet, wird ihr Job leichter. Dann erschießen nicht so viele Menschen andere Menschen, weil sie nicht ihre viele freie Zeit auf der Straße verbringen. Hier sehnt man die heißen, wolkenfreien Tage nicht herbei. Denn dann sterben mehr Menschen.
Scanlan und Antesberger sind täglich im 15. Distrikt der Polizei auf Streife. Bis zum späten Abend fahren sie durch die Straßen, die nicht ihre Heimat sind, aber dennoch ihr Zuhause, da sie seit Jahren in dieser Nachbarschaft arbeiten. Sie nennen die Gegend „wirtschaftlich benachteiligt“. Die Beziehung zwischen Polizei und Bewohnern ist nicht einfach. Die Kriminalität ist hoch, und die Polizei verhaftet nicht einfach Täter, sondern die Täter sind Söhne, Ehemänner, Nachbarn.
Polizei und Bevölkerung sind zwar in einem von Gangs dominierten Viertel wie Austin aufeinander angewiesen; man braucht, aber man verbrüdert sich nicht. Scanlan bemüht sich um einen verbindlichen Ton, durch das offene Fenster ihres Streifenwagens ruft sie immer mal wieder: „Wie geht’s?“, wenn sie mit dem Auto langsam durch die Seitenstraßen rollt und Fußgänger passiert. Doch es wirkt distanziert.
Kaum ein US-Bundesstaat hat striktere Waffengesetze als Illinois. Jeder Käufer einer Waffe muss eine sogenannte Foid-Karte (Firearm Owner Identification) beantragen. In Chicago müssen Besitzer ihre Waffen zudem registrieren lassen.
Seit Juli 2013 ist es in Illinois wie in allen anderen US-Bundesstaaten erlaubt, eine Waffe in der Öffentlichkeit zu tragen. Ein Gericht hatte das bisherige Verbot als verfassungswidrig bewertet. Unerlaubter Waffenbesitz wird mit einem Minimum von einem Jahr Haft bestraft, in der Praxis gibt es zumeist maximal sechs Monate Haft.
Entlang der Straßen in Austin, wo mehr als 90.000 überwiegend schwarze Chicagoer leben, gibt es keine großen Supermärkte, keine Cafés. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 21 Prozent, doppelt so hoch wie der Durchschnitt der Stadt. Was es gibt, sind ein paar kleine Eckläden, die Fenster sind verrammelt, um sie vor Zerstörung aber auch Schießereien zu schützen. Laut Polizeistatistik werden in Austin pro 100.000 Einwohner im Schnitt 34,5 umgebracht.
"Ich liebe meine Glock"
An diesem Abend sind es kleinere Delikte, die Brent Antesberger, der bis vor drei Jahren Lehrer war, und seine erfahrene Kollegin Brenna Scanlan verfolgen. Fast langweilig. „Es ist tot draußen“, sagt Scanlan. Die drogenabhängige Prostituierte ist nicht mehr als eine „hot mess“. Ein chaotischer, hoffnungsloser Fall. Ein paar Ecken weiter stören Kollegen einen Drogenverkauf, Scanlan wird hinzugerufen, denn die Käuferin ist eine Frau. Noch so eine „hot mess“. Die Polizistin filzt sie, findet das Tütchen. Crack kostet auf der Straße zehn Dollar.
Brenna Scanlan setzt ihre Sonnenbrille wieder auf. Mit der Designerbrille und ihrem bunten Glitzernagellack wirkt sie fast mädchenhaft, nicht wie jemand, der seit neun Jahren eine schusssichere Weste und eine Dienstwaffe trägt. „Honey, ich liebe meine Glock.“ – „Heckler & Koch sind auch gut, nur teuer“, wirft der Kollege ein. Weg ist sie, die Illusion des Glitzerlacks.
Die Dialoge sind die schlechte Kopie einer klischeebeladenen Copserie im Fernsehen. Joshua Purkiss würde gut in eine solche passen, Typ harter Straßenbulle. Früher in einer Eliteeinheit, die Arme tätowiert, der Schädel kahl rasiert, die schusssichere Weste individuell angepasst, mit Platz fürs Messer. Purkiss will Karriere machen und ist daher in die Öffentlichkeitsabteilung gewechselt. Deswegen sitzt er mit im Wagen.
Der Stoff ist weg
Als es plötzlich an einer Tankstelle hektisch wird, ist Purkiss als Erster aus dem Wagen, nicht ohne „Auf keinen Fall aussteigen!“ zu brüllen. Fünf junge Afroamerikaner hängen scheinbar an den Zapfsäulen ab. Als der Streifenwagen vorfährt, versuchen sie, sich in alle Richtungen zu zerstreuen. Alltag für die Polizisten, die schneller sind als die Jungs. Mit Kabelbinder aneinandergefesselt lehnen die Jugendlichen kurze Zeit später bäuchlings am Wagen und werden nach Waffen und Drogen durchsucht.
Die Ecke ist ein bekannter Umschlagplatz, aber die Jugendlichen haben ihre Ware rechtzeitig wegschaffen können. Bis alle Personalien festgestellt sind, vergeht viel Zeit. Einer der Jugendlichen wurde in den letzten zehn Tagen dreimal festgenommen. Dieses Mal darf er gehen, Scanlan und Antesberger haben nichts gegen ihn in der Hand. „Wir hätten den ganzen Tag hier zu tun“, sagt Scanlan. Setzt sich in den Wagen und kehrt der Tankstelle den Rücken. Die Zeit ist knapp, das Viertel groß.
Nach dem Amoklauf von Newtown hatte Barack Obama versucht, die Waffenlobby mit schärferen Gesetzen zu bezwingen. Aber er ist gescheitert. Besonders im Sommer steigt die Zahl der Schussopfer in den amerikanischen Metropolen. In Obamas Heimatstadt Chicago hat sich taz-Reporterin Rieke Havertz auf die Suche nach Ursachen gemacht. Warum greifen Täter zur Waffe? Wie leben die Familien der Opfer mit dem Verlust? Was unternimmt die Polizei? Diese Reportage setzt eine fünfteilige Serie zur Waffengewalt in den USA fort. Alle Teile unter taz.de/waffenmacht.
Die Recherchen wurden gefördert durch ein Stipendium des Pulitzer Center on Crisis Reporting. Der Chicagoer Fotograf Carlos Javier Ortiz ist ebenfalls Stipendiat des Pulitzer Center. (www.pulitzercenter.org)
Wenig später berührt Officer Antesberger unauffällig den Kofferraum des schwarzen Autos, das sie angehalten haben. Der Fahrer hat ein Stoppschild ignoriert. Eine Kleinigkeit. Aber hier im 15. Polizeidistrikt der Stadt wissen die Polizisten nie, ob sich nicht eine Waffe im Wagen befindet. Noch einmal berührt Antesberger sacht das Dach und den Fensterrahmen der Fahrerseite. Sollte der Fahrer schießen und anschließend fliehen, sind die Fingerabdrücke des Polizisten überall auf dem Auto. Die schusssicheren Westen sind eher kugelabwehrend als wirklich sicher. Doch der Fahrer bleibt ruhig, auch als sich herausstellt, dass er ohne Führerschein unterwegs ist. Niemand zieht eine Waffe.
Neuer Polizeichef
Pistolen sind die Waffen der Wahl in einer Nachbarschaft, in der konkurrierende Gangs die Kontrolle über einzelne Straßenzüge auskämpfen. Die Polizei ist in der Minderzahl, obwohl Chicago mit 12.500 Beamten die zweitgrößte Einheit nach New York City aufweist. „Jede Waffe da draußen ist eine Waffe, die einem Polizisten das Leben nehmen kann“, sagt Purkiss, überlegt kurz und schiebt hinterher: „Und den Menschen hier.“
Das vergangene Jahr war eines der gewalttätigsten in der Geschichte Chicagos, 506 Menschen wurden getötet. Bürgermeister Rahm Emanuel musste etwas ändern. Der einstige Stabschef Präsident Obamas ist seit 2011 im Amt. Er stellte einen neuen Polizeichef ein und löste die Taskforce auf, die in Krisenzeiten die Reviere unterstützte. Das neue Konzept sieht kontinuierliche Arbeit vor Ort mit mehr Beamten vor, damit sie die sich ständig aufspaltenden Gangs genauer im Blick haben können. „Kleinere Gangs machen uns das Leben viel schwerer“, sagt Purkiss. Kriminalität hat etwas Organisches, sie verändert sich stetig.
Überwacht wird die neue „Anti-Gang-Strategie“ von „Chief“ Bob Tracey, der die Zahlen sofort parat hat: In den ersten Monaten des Jahres sei die Mordrate um 34 Prozent gesunken. Dass der Frühling in Chicago in diesem Jahr ungewöhnlich regnerisch ausgefallen ist, erwähnt er nicht. Tracey sitzt, mit sich und der Statistik zufrieden, in seinem Eckbüro, der Bauchansatz lässt das weiße Oberhemd spannen. „Wir werden diese Zahlen halten können“, sagt Tracey. Doch dafür zahlt die Stadt einen hohen Preis: Die Polizei ist unterbesetzt und überarbeitet.
Viel zu wenig Beamte
Überstunden sind normal im Polizeialltag, die Kosten dafür im Haushalt einkalkuliert. Doch laut New York Times sind bereits 31,9 Millionen Dollar der dafür veranschlagten 39 Millionen aufgebraucht. Und auf den Straßen in Austin patrouillieren viele „Rookies“, Anfänger von der Polizeiakademie. „Das reicht nicht“, kritisiert Excop Alfredo, der mehr als 30 Jahre in Chicago gearbeitet hat. Diese Beamten hätten schlicht zu wenig Erfahrung.
Chief Tracey bestreitet, dass die Anti-Gang-Strategie die Überstunden verursacht, und verweist auf seine 12.500 Mann starke Truppe. „Wir werden diese Zahl nicht reduzieren.“ Doch Alfredo zitiert Zahlen der Gewerkschaft, von 2009 bis 2012 seien 820 Polizisten eingestellt worden, 2.200 dagegen verließen die Truppe. „Es ist ein undankbarer Job in einer gefährlichen Stadt, der Ruf der Truppe ist nicht der beste“, sagt er. Außerdem zahle die Privatwirtschaft einfach besser. „Die Polizei hat zu wenig Beamte, es ist lächerlich.“ Doch im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl steht Chicago gut da, in Los Angeles etwa kommen 25,7 Polizisten auf 10.000 Einwohner, in Chicago sind es 44,7.
Abschreckungsstrategie
Mehr Beamte, mehr Präsenz auf der Straße, härtere Gesetze – so lautet die Antwort von Polizei und Politik auf die Gewaltproblematik in der Stadt. Bürgermeister Emanuel will die Mindeststrafe für unerlaubten Waffenbesitz von einem auf drei Jahre hochsetzen, mit der Auflage, mindestens 85 Prozent der Zeit im Gefängnis abzusitzen. Doch die Umsetzung der Abschreckungsstrategie braucht Zeit, und ob härteres Eingreifen allein zum Erfolg führt, bleibt offen. Im Juli starben in Chicago 52 Menschen auf gewaltsame Weise.
Brenna Scanlan und Brent Antesberger können auf neue Strategien und Gesetze nicht warten. Sie verlassen sich auf ihre eigenen Waffen. Der nächste Wagen wird angehalten, das gleiche Spiel: Kofferraum berühren, dann das Dach, dann den Fensterrahmen. Der Fahrer verstrickt sich in Lügen, nennt einen falschen Namen. Er ist in Drogengeschäfte verwickelt. „Was für ein Dummkopf“, sagt Scanlan. Aber nicht so dumm, eine Waffe zu ziehen. Bis zum Ende ihrer Schicht hören die beiden Polizisten keine Schüsse in Austin. Der Himmel öffnet sich, Regen fällt.
Leser*innenkommentare
774 (Profil gelöscht)
Gast
Anti-Gang-Strategie anstatt Anti-Arbeitslosigkeits-Strategie. Findet man dann einen Job, wenn man aus der Gang austritt?
unbenannt
Gast
selbst wenn es pro Tag wäre, dann wäre die Stadt schon ausgelöscht und Polizisten arbeitslos.
KarlM
@ Redaktion,
den Artikel habe ich mehrmals mit Interesse gelesen. Das Problem der Bandenkriminalität dort ist nicht wirklich neu, es ist auch durchaus soziologisch und kriminologisch untersucht; also nicht neu.
Nur, was hat diese Milieugeschichte mit dem selbst gesetzten Anspruch an Erklärung von Hintergründen zu tun. In diesem Artikel war genau dazu eigentlich nichts zu finden?
Glück auf!
Karl
wow...
Gast
"Laut Polizeistatistik werden in Austin pro 100.000 Einwohner im Schnitt 34,5 umgebracht. "
wow – pro Tag oder pro Stunde?
racial profiling
Gast
"Die Ecke ist ein bekannter Umschlagplatz, aber die Jugendlichen haben ihre Ware rechtzeitig wegschaffen können."
Die Autorin scheint ja die Doktrin CPD voll mitzutragen. Menschen die an der falschen Zapfsäule stehen sind zwangsläufig irgend einer Straftat schuldig.
Das lässt tief blicken.
Den Kids aus Hamburg-Altona geht es ja nicht anders. Wie würden Sie darüber berichten?
friedbert
Gast
Leider ist diese Art der Vorgehensweise nur eine Seite der Medaille.
Gangs brauchen für deren Gründung eine Initialzündung, ein bestimmtes
Milieu, Schlüsselereignisse. Eine bestimmte verbindende Inspirationserfahrungswelt.
Dort muß eben auch angesetzt werden. Es geht darum diese multiplen
Kerne herauszukristallisieren und ins Absurde zu führen, zu einer
gesellschaftlichen Lächerlichkeit zu überführen.
Kinder könnten täglich von Polizeitruppentransportern nach Hause
gebracht werden oder in Hausaufgabenzentren transferiert werden.
Da fällt das Milieu Schulweg und Prügeleien abseits der Öffentlichkeit
weg.
Die Gangbildung kann auch in Kindergärten/Schulen durch konsequentes
"social team management" unterbunden werden. Die Aggressionen können
in gesundheitlich unbedenkliche Boxkämpfe mit Körperschutzprotektoren
(und anderen dopingfreien und mißbrauchsfreien Sportarten)
kanalisiert werden. Richtig gute Polizisten und andere Staatsbedienstete
könnten den Vorbildvater mimen und dem Elternbild zu Hause einen positiven Kontrast bieten. Die
Traumatafrequenz muss heruntergeschraubt werden.
Außerdem müssen die Filme in den Köpfen der Gangmitglieder
eben gerade nicht den Erwartungshaltungen der Gangster folgen!!
Weder die Erfahrung Knast, noch die Erfahrung Polizeikonfrontation,
noch das Thema Drogenverkauf soll für die Leute berechenbar sein.
Der Umgang mit Tieren und deren Verantwortung, das Gestalten von
Gruppenaktivitäten kann Reife bewirken. Auswilderungsprojekte und
Tierpatenschaften für weltweit bedrohte Arten in Chicagoer Reservaten
wären wunderbare Alternativen für die neue Generation, ebenso Reitparaden
oder aber Stadtverschönerungsjobs! Der erste Ansatz für eine Verhaltensänderung ist immer die Seele und nicht die Angst vor Gewalt.
Das Angebot muss sich an alle Kinder richten und nicht nur an die Täter
oder Opfer.
Bürger Lars
Gast
Wie sinnlos dieser Dienst ist. Wieviel Geld man mit diesen Streifen verbrennt und verdummt. Was man braucht sind Streetworker, Sozialarbeiter, Kreative, Anleiter und Lehrer. Die können zum Aufbruch und zur Belebung führen. Aber noch mehr Streifen zu noch mehr Stumpfsinn.
...no news...
Gast
Wann lernen die Menschen endlich die Krankheit selbst zu bekämpfen anstatt nur deren Symptome?
Die Gewalt auf der Strasse, Drogen, Prostitution und Gangs sind doch nur das Resultat der andauernden Armut und Chancenungleichheit.
Es braucht nicht mehr Polizisten, sondern mehr Schulen und Weiterbildungsmöglichkeiten, Sportvereine etc. die sich die Menschen dort auch leisten können.