szene: Frische Luft und tote Lilien
VonLuciana Ferrando
Zum dritten Mal an diesem Freitag werde ich wach. Diesmal sehe ich den blauen Himmel und das helle Licht durchs Fenster. Nicht nur dieser Anblick zieht mich aus dem Krankenbett, als hätte ich ein inneres Sprungsystem, sondern auch die Erinnerung an die sonnigen Wintertage meiner Kindheit. Wenn ich damals krank war, wurde ich warm eingepackt und an die frische Luft geschickt. Genau das mache ich nun mit mir selbst.
Ich ziehe mich warm an und verlasse das Haus in Jogginghose, was ich sonst nie tue. Zuerst kaufe ich Ingwer, Zitronen, Halsbonbons und alles, was zur Stärkung des Immunsystems empfohlen wird, auch wenn es wohl zu spät dafür ist. Dann suche ich einen Platz in der Sonne, doch sie ist inzwischen hinter den Häusern der Hermannstraße verschwunden. Ich beneide die Menschen in den oberen Etagen, die noch die letzten Strahlen in ihren Wohnzimmern oder Küchentischen sicher gerade genießen.
Ich entscheide mich, in die Bäckerei um die Ecke reinzugehen. Auch wenn mich die Preise ärgern, mag ich dort das Croissant am liebsten, und da ich niemand zu Hause habe, der mich verwöhnt, gönne ich es mir. Ich nutze die Zeit, um ein paar Briefe zu Ende zu schreiben, während ich meinen Americano trinke und das Croissant in winzigen Stücken esse, damit es länger hält. Ich schaue mich um und merke, dass ich mit meinem Outfit gar nicht auffalle. Gleichzeitig fühle ich mich beobachtet – vielleicht weil ich eine Maske trage, vielleicht weil es ungewöhnlich wirkt, wenn jemand Briefumschläge mit der Zunge verschließt? Als ich bei mir ankomme, sehe ich neben meiner Haustür einen Blumenstrauß und denke, dass mich jemand besuchen wollte. Als Nächstes erkenne ich, dass die Lilien doch verwelkt sind und es kommt mir kurz wie eine Mafiabotschaft vor. Dann sehe ich aber, dass die Nachbarin nebenan mit offener Tür putzt. Sie bringt die Blumen runter in den Müll, und ich kehre, beruhigt, ins Bett zurück. Luciana Ferrando
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