szene: Ganz weit weg
Mehr Wind. Ein paar Tage Spätsommer in der brandenburgischen Einöde, selbst gewählt und unbezahlbar. Ich erwische mich immer wieder, wie ich jedes Jahr zwischen „der Sommer ist endlos“ und „kaum hat der Sommer begonnen, winkt schon der Herbst“ hin- und herschwanke. Eine knappe Stunde fahren und Berlin ist ganz weit weg. So weit, dass ich es sogar hinbekomme, mein Telefon für einige Stunden komplett unbeachtet zu lassen. Brandenburg. Rainald Grebe singt: „Nimm dir Essen mit, wir fahr’n nach Brandenburg.“ Brauch ich nicht, alles hier. Und Ruhe, viel Ruhe, hinterm Gartentor.
Die letzten Umfragen erinnern eher an eine andere Textzeile: „Steh’n zwei Nazis auf’m Hügel und finden keinen zum Verprügeln …“ Scheiße. Über 30 Prozent Rechtswähler laut Umfrage. „Meine“ Ecke hier ist noch vergleichsweise links, zum Glück. Na ja, immerhin SPD-Wähler. Das war und ist nicht selbstverständlich.
Brandenburg kann wunderschön sein – und voller Leere. Ich habe hier mein kleines Refugium, meinen Ruhepol. Und Helga steht hier, meine Minirampe. Das kleine Paradies, eine knappe Stunde aus Berlin raus. Der Wind rauscht durch die Bäume, die Wühlmäuse stehen hier nicht auf der Bühne, sondern buddeln sich durch den Garten, Vogelgezwitscher.
Jetzt wird der Wein rot – wunderschön, aber ein sicheres Zeichen dafür, dass der Sommer vorbei ist. Keine schmutzigen Füße mehr, kein In-einer-anderen-Welt-Sein. Bald ist es nicht nur nachts kalt. Ein paar Wochen noch, dann stell ich das Wasser ab, und dann ist der Wein kahl, knorrig und grau.
Heute hab ich noch schmutzige Fußsohlen und zelebriere das. Erde zwischen den Zehen, Wind um die Nase. Und bald der endlose Berliner Winter. Grau, nass und kalt und immer wieder ein Auf-die-Probe-Stellen, wie sehr ich meine Stadt liebe.
Christian Rothenhagen
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