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Archiv-Artikel

strübel & passig Die richtige Welt da draußen

Heidi, 48, hat keine Lust zum Mailabrufen, keine Zeit für ihre Chat-Freunde. Lieber nimmt sie weite Wege und unfreundliches Personal in Kauf, nur um nicht im Internet einkaufen zu müssen, und was nicht im dtv-Lexikon steht, das existiert für sie nicht. Zehn Jahre nach Erfindung des Webs breitet sich ein fatales Syndrom aus: der Internetüberdruss. Symptome sind Schuldgefühle wegen der Internetabstinenz, vergebliche Versuche, den Konsum zu steigern, sowie der Wunsch, „vom richtigen Leben loszukommen“.

 Dem Internetüberdruss ist verfallen, wer lieber mit den gleichen alten Freunden in den gleichen Kneipen über die gleichen Themen redet, als sich neuen Erfahrungen auszusetzen, und wer sich – auch während er online ist – gedanklich ständig mit der richtigen Welt da draußen beschäftigt. Für die Betroffenen zählen fast nur noch die Erlebnisse in der Außenwelt, andere Interessen und Kontakte gehen mehr und mehr verloren. In einem fortgeschrittenen Stadium werden selbst Erotikangebote uninteressant.

 Die zwanghafte Suche nach realen Erlebnissen kann schnell zu Problemen mit dem Arbeitgeber führen, wenn etwa auffliegt, dass sich Angestellte weigern, zeit- und kostensparend im Internet zu recherchieren. „Die Betroffenen erleben einen völligen Realitätsverlust – viele verharmlosen ihre Lage zunächst, reden sich ein, auch ohne Internet zurechtkommen zu können“, weiß Expertin Edeltraut Ronellenfitsch.

 Ein besonders hohes Realitätssuchtrisiko besteht für Personen über 40 und für Verheiratete. Einsame und isolierte Menschen sind stärker gefährdet, also Leute, die nicht in einen funktionierenden Chat oder ein Onlineforum integriert sind.

 Auf Internetüberdruss deuten laut Dr. Ronellenfitsch zunächst Erscheinungen wie Unruhe, Reizbarkeit und Unzufriedenheit während der Internetaktivität hin. „Klar, die vielen unbenutzbaren Flash-Websites und von geschmacksblinden Webdesignern gestalteten Angebote nerven jeden. Aber wenn die reale Welt in erster Linie genutzt wird, um Defizite des Internets zu kompensieren, dann besteht Gefahr.“

 Ein weiteres Anzeichen ist auffälliges Leugnen und Lügen, wenn man wegen des Rückzugs von Freunden zur Rede gestellt wird. „Es ist mir irgendwie peinlich, und ich kann es auch Leuten, beispielsweise im Chat, teilweise nicht erklären, warum ich so viel Aufmerksamkeit für Sachen wie Minigolf oder Bücher lockermachen kann, aber keine Zeit mehr für sie habe“, gibt Heidi zu.

 Für Menschen, die sich verbal nur schwer ausdrücken können, ist die Kohlenstoffwelt mit ihren Clubs, Diskotheken und „Fisch sucht Fahrrad“-Partys eine verlockende Möglichkeit, schnell und unverbindlich Menschen kennen zu lernen. Wer sich helfen lässt, hat jedoch gute Chancen, wieder ins Netz zurückzufinden. Lese-Rechtschreib-Training etwa kann den Betroffenen dabei helfen, selbstbewusster aufzutreten. Dabei ist in der Therapie neben der schrittweisen Steigerung der Internetdosis eine psychotherapeutische Behandlung sinnvoll: Oft verbirgt sich hinter dem Vermeidungsverhalten eine latente Technikfeindlichkeit oder Depression. Den ersten Schritt aber müssen die Betroffenen selbst machen – gar nicht so einfach, wenn die Selbsthilfegruppen in erster Linie im Internet angeboten werden. KATHRIN PASSIG

kathrin@kulturindustrie.com