starke gefühle: Weihnachten hat in meiner Kindheit keine große Rolle gespielt. Ein Glück! Jetzt erfinde ich es jedes Jahr neu
Gefühle zu Weihnachten, ob stark oder schwach, gut oder schlecht, hat jede:r. Auch wenn man wie ich nicht aus einer Familie kommt, in der Weihnachten gefeiert wird. Meine Eltern sind nicht christlich und auch nicht in einem christlichen Land sozialisiert worden – was meine Schwestern und mich aber nie davon abhielt, an Schulweihnachtsfeiern teilzunehmen, unsere Mutter auf den Weihnachtsmarkt zu zerren oder im Fernsehen endlos viele Folgen Weihnachtsmann & Co. KG zu schauen. Doch ein richtiges Fest gab es eben nie.
Ich erinnere mich an den Tag vor Nikolaus in der ersten Klasse, als die Lehrerin uns darauf hinwies, abends den Schuh vor die Tür zu stellen. Ich versuchte, mir das ganz doll zu merken. Kurz vor dem Zubettgehen fiel es mir dann wieder ein, ich sprang auf, eilte zur Tür, stellte den Hausschuh heraus. Meine Eltern schauten mich verdutzt an. „Keine Sorge, das ist für den Nikolaus“, sagte ich. Sie lachten und sagten: „Ach, das machen nur die Deutschen.“
Kein Baum, keine Deko, keine Geschenke. Offenbar für viele ein Schock. Meine gesamte Kindheit und Jugend habe ich mir Fragen anhören müssen wie „Aber fehlt dir denn nix?“ Oder: „Wie können dir deine Eltern das antun?“ Interessanterweise auch oft von Menschen, die sich als atheistisch bezeichneten. „Na ja, ich kenne es halt nicht anders“, war meine servierfertige Antwort darauf.
Doch tatsächlich fand ich die Feiertage in meiner Kindheit gar nicht schlimm, im Gegenteil. Denn zu Hause herrschte viel weniger Druck. Weniger Erwartungen, weniger Stress. Und viel mehr Spielraum für eigene Interpretationen. Und davon profitiere ich noch heute. Insbesondere während des Lockdowns machte ich die Erfahrung, dass Weihnachten richtig Spaß machen kann, wenn man es sich selbst gestaltet. Zum ersten Mal verbrachte ich die Zeit allein und es war, als wäre ich fünf Tage in ein Schweigekloster gezogen. Ich kann es nur empfehlen!
Menschen lieben es, eine Meinung zur Lebensweise anderer zu haben. Und wie andere ihr Fest verbringen, eignet sich offenbar besonders zum Urteilen. Von vielen Menschen in meinem Umfeld weiß ich, dass an Weihnachten die Beziehung zur eigenen Familie wie unterm Brennglas liegt. Das einzige, was sie irgendwann davon entbindet, nach Hause zu fahren, sind eigene Kinder. Bis dahin gilt: Hauptsache, der Schein wird gewahrt, ganz egal, wie schlecht die Stimmung ist.
Vor ein paar Jahren fragte ein guter Freund, ob jemand Lust hätte, mit ihm Friendsmas zu feiern. Friendsmas ist viel weniger amerikanisch und neumodisch als es klingt: Es bedeutet schlicht, dass man das heilige Fest mit Menschen verbringt, die man wirklich liebt – ähm, ich meine natürlich, die man auchliebt, beziehungsweise mit denen man reibungsloser Zeit verbringen kann als mit der eigenen Verwandtschaft. Die Idee begeisterte mich und weitere Freundinnen sofort und so verbrachten wir drei Tage gemeinsam, aßen Knödel und Rotkohl, schauten Serien und redeten ohne Ende.
Also gar nicht so anders als „klassische“ Weihnachten, nur viel ungezwungener. Seitdem habe ich Weihnachten immer mit Freund:innen gefeiert, in verschiedenen Konstellationen und an verschiedenen Orten. Vergangenes Jahr zum Beispiel war ich in meiner Heimatstadt, traf mich statt mit meiner Familie aber mit meiner über 80-jährigen Freundin und deren Freundin. Für meine Familie gab es ja noch die Tage Ende Dezember. Dieses Jahr besuchen wir gemeinsam eine andere Freundin in Portugal. Sie hatte uns um Friendsmas beneidet und wollte es mal ausprobieren.
Ich kann also nur dafür plädiere, sich von der Tradition zu befreien und mal darüber nachzudenken, mit wem und wie man Feste feiern möchte. Lasst uns den Druck rausnehmen, 2025 war schon anstrengend genug. Ein frohes, selbstbestimmtes Weihnachten wünsche ich! Raweel Nasir
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