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star trek, shakespeare etc.Angesichts der feuilletonistischen Angriffe aus dem All wenden die Achtundsechziger sich wieder dem Bücherregal zu

Die neue Belesenheit

In dem Roman „Ortswechsel“ erzählt David Lodge von dem englischen Literaturprofessor Philip Swallow, der 1969 eine Gastdozentur in den USA antritt. Swallow wird nicht nur von der neuen sexuellen Freizügigkeit überrascht, sondern auch vom lässigen Umgang mit dem angloamerikanischen Bildungskanon: Seine Kollegen lieben es, mit ihrer Unbelesenheit anzugeben! Das Spiel geht so: Man nennt Titel von Klassikern, die man nicht gelesen hat – und sammelt Punkte, wenn man mit seiner Unkenntnis allein dasteht. Swallow ist entsetzt, wird dann aber von seinem Ehrgeiz gepackt und wirft „Hamlet“ in die Runde. Top score.

Den Angriff auf den Kanon, den die Achtundsechziger (mit sehr viel mehr Ernst, natürlich) auch in Deutschland betrieben, führen heute ihre Kinder bzw. kleinen Brüder fort. Nachdem das Feuilleton der FAZ in den letzten Jahren zunächst wie Philip Swallow bei seiner Ankunft in Amerika die klassischen Kulturbestände noch eisern verteidigt hatte, arbeitet man dort seit einigen Monaten an einem radikal neuen Kanon: In den Drehbüchern zu Fernsehserien wie „Raumschiff Enterprise“, so liest man dort zum Beispiel inzwischen beinahe täglich, finde man die großen Erzählungen der Gegenwart. Thomas Mann taugt gerade noch für Satiren!

What’s left? Wir vom restlinken Milieu der taz finden es natürlich sehr lobenswert, dass die Achtundsechziger angesichts dieses Angriffs aus dem All wieder auf allumfassende Belesenheit setzen. Sie stehen – wie ein Artikel des Verlegers Klaus Wagenbach gestern in dieser Zeitung belegte – aufgeregt vor ihren Bücherregalen und suchen mit Herder (und Friedrich Merz) bei „Kleist, Kafka, Goethe“ nach „unserem Nationalcharakter“.

Es lohnt sich. Entgegen der von Wagenbachs ehemaligem Mitstreiter Michael Naumann gerne vertretenen Meinung, dass „Kultur nicht mit wirtschaftlichen Maßstäben“ zu bewerten sei, lässt sich aus dem neuen Trend zu alten Büchern gar Kapital schlagen. In der „Quiz Show“ auf Sat.1 kann man täglich 125.000 Mark oder mehr gewinnen, wenn man etwa weiß, wer den „Zauberberg“ geschrieben hat. KOLJA MENSING

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