stadtgespräch: Old Labour ist zurück
Die Kandidatur des Linksaktivisten Jeremy Corbyn um den Parteivorsitz versetzt vor allem die Rechte in Zuckungen
AUS LONDON Daniel Zylbersztajn
Nach den Parlamentswahlen im Mai war wieder mal klar, dass London aus einem anderen Stück Holz ist als der Rest Englands. Dominierte überall sonst die Farbe Blau der Konservativen, blieb in den meisten Londoner Wahlbezirken der rote Teppich der Labourpartei ausgerollt. 45 der 73 Londoner Sitze gingen an Labour.
Einer der sichersten Bezirke dabei war Nordislington. Seit 32 Jahren ist dort der Sozialist Jeremy Corbyn unschlagbar, Sohn eines Wetterberichtansagers und allumfassender Aktivist von Venezuela bis Antiatomkraft. Von seiner Sorte gab es vor Tony Blair und New Labour viele in der Partei und besonders in London. Inzwischen ist dieser Typus eher seltener geworden.
Nachdem Ed Miliband nach seiner Wahlniederlage die Parteiführung abgegeben hatte, erklärte sich Corbyn zur Kandidatur bereit. Keiner der anderen drei Kandidaten verfügt über seine üppige Erfahrung im basisorientierten politischen Einsatz, und so gilt Corbyn manchen als Inbegriff einer Wiedergeburt der Labourpartei nach traditionellen Prinzipien, ganz zum Abscheu der rechten Medien. Inzwischen soll Corbyn den anderen 15 Prozentpunkte vorausliegen, und das gefällt nicht nur Rupert Murdochs Daily Mail nicht. Der renommiertere, aber ebenfalls rechte Daily Telegraph forderte kürzlich Labourgegner auf, kurzfristig Parteimitglieder zu wählen, bei der Abstimmung Corbyn zum Parteichef und damit „Labour unwählbar zu machen“.
Auch Premier David Cameron mischt sich ein: Spöttisch sprach er gerade von „einem Labourmitglied“, das Hisbollah und Hamas „unsere Freunde“ nenne. Kurz zuvor war Corbyn in einer Nachrichtensendung über dieses Zitat gegrillt worden. Corbyn antwortete, um Frieden zu schaffen müsse man mit allen Vertretern im Nahen Osten reden.
Ist er in politischen Kreisen in aller Munde, muss Corbyn selbst in seinem Heimatbezirk, erst recht aber im Rest des Landes noch Nachholarbeit leisten – viele kennen ihn gar nicht. Anders Phillina, eine Rentnerin und ehemalige Krankenschwester, und ihre Tochter Maria, 34 eine Lehrerin: Sie haben Corbyn gewählt. „Er ist jemand, dem man vertrauen kann“, behauptet Phillina, und Maria fügt hinzu: „Er weiß, wovon er redet, denn in unser Wahlbezirk ist rau.“ Ihre Mutter sei schon dreimal überfallen worden, es gebe hier wöchentlich brutale Angriffe und Morde. Dass es nach mehr als 30 Jahren mit Corbyn nicht besser sei, liege daran, dass er keine wirkliche Macht habe, die liege in Westminster.
Im schicken Sommerhemd erzählt David Attearne in Holloway, mitten in Nordislington, dass er Jeremy Corbyn kennt, und bezeichnet ihn als „Mann starken Glaubens“. Obwohl er kein Unterstützer der Labourpartei sei, erklärt der 72-jährige Firmendirektor, dass er den Aufruf des Daily Telegraph für falsch und unfair hält. Labour will auf alle Fälle bei neuen Mitgliedschaftsanträgen prüfen, ob es etwaige vorherige Verbindungen zu den Tories gab. Aber vielleicht will auch so mancher innerhalb der Labourpartei verhindern, dass ein Londoner Sozialist die Partei anführt.
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