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sein! nicht nicht sein!Schlingensief probt Hamlet (3)

Die Stille der versammelten Medienmacht

In Zürich inszeniert Christoph Schlingensief „Hamlet“ mit aussteigewilligen Rechtsradikalen. Der Hauptdarsteller Sebastian Rudolph schreibt über die Proben und die Schweizer Erregung anlässlich des Projekts, das am 22. Mai beim Berliner Theatertreffen gezeigt werden wird.

Eine Woche vor der Premiere. Die Ereignisse überschlagen sich. Einige Verwaltungsratsmitglieder empören sich über die Distanzierung ihrer Kollegen von unseren Aktionen. Sie waren im Urlaub und gar nicht gefragt worden.

Gestern haben wir in der Pause die Badesaison im Zürisee eröffnet. Die SVP überlegt, ob sie ein Volksbegehren zum Thema Schauspielhaus initiieren soll.

Die Proben gehen in die Endphase, wir alle haben ungefähr zehn Versionen im Kopf, und die Nerven liegen blank. Und dann auch noch das: Heute sollen SIE kommen.

Nach dem Nazi-Casting nun Nazi-Bahnhof. Nach der Probe stehen wir am Zürcher Hauptbahnhof umgeben von zehn Kamerateams, Presse, Rundfunk. Alle wollen Exklusivinterviews, setzen aber sicherheitshalber ein wissendes Lächeln auf. Ist ja Schlingensief. Da werden nur Schauspieler kommen. Dann trifft der Zug ein, und unser Trupp von 15 naziline-Aktivisten, den Journalisten, Zuschauern und unserer Begrüßungsblaskapelle hastet den Bahnsteig entlang, sieben sehr klein wirkenden Menschen entgegen, die aus dem vorletzten Wagen aussteigen. Zwei riesige Kerle mit finsteren Blicken, ein gegelter Jungunternehmertyp, einer mit Schmiss und billigem Anzug, eine junge Frau mit strengem Haarschnitt, ein Kleiner, Schmächtiger mit Brille und Bomberjacke; sehen aus, wie man sich das wünscht. Die Kameramänner schlagen sich, ein SBB-Vertreter versucht unsere unangemeldete musikalische Begrüßung zu unterbinden – aber da spielt sie schon. Kurzes Händeschütteln, erste Blickkontakte zwischen uns und den Jungs oder der Schauspieltruppe oder den Nazis. Bei dem Versuch, einen Namen für unsere Besuchergruppe zu finden, wird noch einige Male ein kurzes Zögern eintreten.

Wir wechseln ins Hotel Schweizerhof zur Pressekonferenz. Christoph Schlingensief stellt das Anliegen von naziline.com und dem Schauspielhaus vor, ein Resozialisierungsprojekt zu initiieren, das, wie Schlingensief sagt, anders als der Verfassungsschutz den Menschen nicht nur Bärte anklebt und sie von Gera nach Sindelfingen umziehen lässt. Daraufhin stellen sich die Nazis vor, anschließend wird die Fragerunde eröffnet und dann – passiert nichts.

Diese Stille der versammelten Medienmacht ist mir unbegreiflich. Kein Versuch einer Frage. Warten die alle auf ein späteres Exklusivinterview mit Homestory? Vielleicht ist es auch auch die Angst, dem Theaterprovokateur auf den Leim zu gehen, die falsche Frage zu stellen. Da gibt es keine Kritik, keine Neugier, keine Haltung. Warum stehen die da alle? Wir brechen ab und gehen nach Hause.

Ich freue mich auf die Probe morgen, und vielleicht können wir dann ja noch mal alle zusammen Zahnbürsten kaufen – damit es was zu sehen gibt.

SEBASTIAN RUDOLPH

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