sein! nicht nicht sein!: Schlingensief probt Hamlet (5)
Der erste Aussteiger reist ab
In Zürich inszeniert Christoph Schlingensief „Hamlet“ mit aussteigewilligen Rechtsradikalen. Der Hauptdarsteller Sebastian Rudolph schreibt über die Proben und die Schweizer Erregung anlässlich des Projekts, das am 22. Mai beim Berliner Theatertreffen gezeigt werden wird.
Montagnachmittag. Heute fahren wir mit unseren Nazis nach Herrliberg zum Haus vom Zürcher SVP-Vorsitzenden Blocher. Wir haben Informationen, nach denen Mitglieder der SVP verschiedene Rechtsrockbands finanziell und organisatorisch unterstützt haben. Wir machen eine Ortsbegehung und erhalten von mehreren Nachbarn überraschend die Bestätigung, dass sich wiederholt sogar hier Skinheads versammelt hätten. Mit dem Transparent ‚Blocher erwache‘ fordern wir die SVP auf, endlich Farbe zu bekennen und sich einer offenen Diskussion zu stellen. Herr Blocher willigt ein, an einem nicht offiziellen Treffen mit Christoph Schlingensief teilzunehmen. In der Aussteigergruppe steigen die Spannungen. Die Gruppe zerfällt, und damit kann sie nicht umgehen. Mittlerweile ist ein Teilnehmer abgereist, scheinbar unter Gewaltandrohung, aber auch für uns sind die Vorgänge nicht immer durchschaubar. Mittlerweile stehen wir mehrmals davor, dass alle wieder abreisen. In dem Aussteigerstück wird immer wieder ein neuer Akt geschrieben, der die Verwicklungen erhöht.
Carl Hegemann (Dramaturg) sieht auch darin eine Verbindung zu Hamlet. Wahrheit und Lüge sind wie im Stück nicht mehr voneinander zu trennen und wir müssten lernen, Verhältnisse jenseits von Wahrheit und Lüge zu schaffen, sagt er.
Am Dienstag sind wir wieder vor Ort und eröffnen eine Fragestunde „Bürger fragen Nazis“. Der Bellevue-Platz im Herzen Zürichs ist voll von Menschen, alten und jungen – und erstaunlich wohl gesinnten. Sogar einige Skinheads sind dabei. Nach anfänglicher Scheu gibt es vereinzelte Gespräche, obwohl auch hier die Angst der Leute vor diesen fremden Gestalten und vielleicht auch die Unsicherheit, ob es sich nicht doch um eine Clownerie handelt, zu spüren ist.
Ich denke, dass es vielen Leuten ganz recht ist, Schlingensief immer wieder als Clown hinzustellen, weil man sich dann nicht mit ihm auseinander setzen muss. Auch in der öffentlichen Diskussion wird mehr darüber gestritten, ob das alles ernst oder nicht ernst, Kunst oder keine Kunst ist, anstatt sich mit dem zu beschäftigen, was hier passiert. Natürlich bedient er sich immer wieder Mitteln, die diese Haltung hervorrufen, aber doch steht hinter jeder Aktion, jeder Provokation ein Inhalt. Sei es manchmal auch nur der, Inhalte aufzulösen, um sie wieder neu finden zu können.
Dieses „Den Boden unter den Füßen wegziehen“ ist es auch, was mich am meisten an der Arbeit mit Schlingensief beeindruckt hat. Den Mut zu haben, sich nicht an Positionen festzuklammern, sich immer wieder neu zu gebären. Ich kenne keinen anderen Theatermacher, der das in dieser Form macht. Dies war dann unsere letzte Aktion bis zur Premiere. Die Schauspieler ziehen sich jetzt in ihren Schutzraum zurück. Am Mittwoch ist Generalprobe und am Donnerstag Premiere. Dann gibt es wieder was zu sehen.
Vielleicht kommen Sie ja mal vorbei. SEBASTIAN RUDOLPH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen