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schwarze tazDie Neuauflage des italienischen Krimiklassikers Giorgio Scerbanenco

Natürlich tot, natürlich Mord

Scerbanenco, ist das nicht ein russischer Name? Ukrainisch. Aber der Schein trügt. Es handelt sich um einen italienischen Kriminalschriftsteller. Vladimir Scerbanenko, der sich selbst Giorgio Scerbanenco nannte, geboren 1911 in Kiew, Sohn einer Italienerin und eines Russen, sprach zeit seines Lebens nur eine Sprache: Italienisch. Mit diesem Idiom wurde er zu einem der bedeutendsten Vertreter seiner Zunft in Italien. Über 60 Romane und hunderte von Erzählungen hat Scerbanenco veröffentlicht, darunter viel Schrott – allerdings auch einige Bücher, die zu den wichtigsten italienischen Romanen des 20. Jahrhunderts gehören. Am bekanntesten, weil in Jahrzehnt-Abständen mehrfach wiederveröffentlicht, sind die vier Krimis um den desillusionierten ehemaligen Arzt Duca Lamberti. Scerbanenco schrieb sie kurz vor seinem Tod im Jahr 1969 und wurde damit spät, aber verdient zum Kultautor, auf den sich heute die junge Generation italienischer Krimiautoren ganz selbstverständlich beruft.

Scerbanenco hat zeit seines Lebens sehr unter der Armut und dem Elend gelitten, das er als Russlandflüchtling erfahren musste. Er konnte nur zwei Arten von Büchern schreiben: Romanzen – Lebenselexier für alle, die aus der Wirklichkeit flüchten müssen – und Geschichten, „in denen die Hauptfigur niemals reich oder vornehm war, und in denen niemand Macht hatte oder Großartiges in seinem Leben vollbrachte“. Duca Lamberti, der Arzt, der zum Polizisten wird, weil ihm wegen Sterbehilfe die Zulassung entzogen wurde, hat keine Macht. Voller Selbstzweifel kämpft er gegen das Verbrechen, das sich in seiner Sicht um ihn herum ausbreitet wie eine Seuche.

In dem gerade wieder auf Deutsch erschienenen ersten Buch der Lamberti-Reihe „Das Mädchen aus Mailand“ beginnt alles ganz harmlos: Duca Lamberti wird von seinem Freund, dem Kriminalkommissar Carrua, an einen Industriellen vermittelt, der möchte, dass der Arzt seinen 22-jährigen Sohn vom Alkohol abbringt. Der hünenhafte junge Mann scheint tatsächlich im Begriff zu sein, sich tot zu saufen. Natürlich will Lamberti herausfinden, was es mit dieser Selbstzerstörung auf Raten auf sich hat; natürlich geht es um ein Mädchen; natürlich ist es tot; natürlich ermordet. Aber sonst ist gar nichts selbstverständlich an dem Fall, den die Polizei längst zu den Akten gelegt hat.

Alberta Radelli war Gelegenheitsprostituierte. Nicht unbedingt ein gefährlicher Job, wenn man nicht in die Hände eines Zuhälters gerät – oder Fotos von sich machen lässt. Auf diese Aufnahmen stößt Lamberti im Laufe der Ermittlungen. Warum hat das Mädchen sie dem Fotografen gestohlen? Wozu wollte der Auftraggeber die Bilder benutzen? Was war so bedeutsam an ihnen, dass Alberta und eine Freundin dafür sterben mussten? Mit Hilfe von Livia Ussaro, einer Frau, die aus „wissenschaftlichem Interesse“ dem horizontalen Gewerbe nachgeht, stellt Lamberti den Mördern eine Falle – und Livia, die Husarin im Dienst der Gerechtigkeit, zahlt einen hohen Preis für ihren Einsatz.

Ist Lamberti danach ein glücklicherer Mensch? Im Gegenteil. Aber er wird weitermachen, angetrieben von einem Eifer, den er von seinem gerechtigkeitsfanatischen Vater geerbt hat, denn: „Heutzutage gibt es leider jede Menge Kriminelle, die die Anwaltskanzlei gleich mit dabeihaben. Sie betrügen, rauben und töten nach Herzenslust, und dabei ist ihre Verteidigungsstrategie längst mit dem Rechtsanwalt abgesprochen.“ Giorgio Scerbanenco hat Lambertis Ermittlungen in schönste Prosa gegossen: karg, knapp, voller unterkühlter Emotionen und poetischer Beschreibungen tief empfundener Verzweiflung.

ROBERT BRACK

Giorgio Scerbanenco: „Das Mädchen aus Mailand“. Aus dem Italienischen von Christiane Rhein. Kremayr & Scheriau, Wien 2001, 255 Seiten, 38 DM

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